
Popcorn im Kopf: Bernhard Martin taucht seine meist großformatigen Gemälde in Schwefeldunst und Neonlicht. Es beleuchtet surreal anmutende Szenen: Da platzen Köpfe und speien Schrauben, Blut und Knabberartikel aus, in denen winzige menschliche Organe sichtbar werden. Fliegende Puzzlestücke zerschneiden die Kontinuität des Bildraums, oder zwei Frauengestalten versuchen, sich an Diamanten zu wärmen.
Info
Bernhard Martin - Fred-Thieler-Preis 2015
29.05.2015 - 24.08.2015
täglich außer dienstags
10 bis 18 Uhr
in der Berlinischen Galerie, Alte Jakobstraße 124–128, Berlin
Altmeister-Motive + Popkultur-Treibgut
Diese pastellbunten Bilder in Lasur- und airbrush-Technik sind eine Augenweide. Der Künstler treibt kluge Spiele auf verschiedenen Ebenen; seine vermeintlich grell und großspurig daher kommenden Sujets stecken voller Widerhaken und verrätselter Anspielungen. Dabei zitiert Martin ausgiebig klassische und altmeisterliche Motive, die er mit allerlei Treibgut aus der Popkultur kombiniert. Doch unter all dem herumfliegenden Detritus und Legomännchen mit Sonnenbrillen stellt Martin ernsthafte Überlegungen an.
Feature auf Englisch über Bernhard Martin; © Deutsche Welle English
Goldzahn + Rolex als Markenzeichen
Der 1966 in Hannover geborene Maler hat in Kassel studiert und war früh erfolgreich; ein goldener Schneidezahn und die Rolex-Uhr am Handgelenk wurden seine Markenzeichen. 2008 kündigte er im Interview mit „Zeit Online“ an: „Ich ziehe aufs Land. Ich will barfuß übers Gras laufen.“ Stattdessen ging er drei Jahre später nach London, um dort in Ruhe zu arbeiten.
Der Strudel aus Bild-Metaphern zwischen Urknall und Phönix, der seine dort entstandenen Arbeiten prägt, zeigt Spuren von Suche und Selbstbefragung voller Zweifel – visualisiert in Versatzstücken zu Identität und Dekadenz. Überdies betitelt Martin seine Bilder gern erratisch als schwer zu deutende Zustände oder Ereignisse; etwa „Temporäre Unregelmäßigkeiten im Geschmacksverein“, „Gähnen und applaudieren im Orchestergraben“ oder „Das Innenleben neu möblieren.“
Überall eruptive Ejakulationen ohne Ziel
Auf dem gleichnamigen Kleinformat beugt sich ein schleimiges alien mit Sonnenbrille zum Kuss über ein Handgelenk mit Armbanduhr, die mit Juwelen gespickt ist. Benachbarte Bilder deuten einen gewissen ennui durch Ruhm und Reichtum an: Sie quellen über von knallenden Korken, fliegenden Champagner-Gläsern und schwimmendem Meeresgetier. Zwar spritzt und flitzt es überall in eruptiven Ejakulationen, von schäumenden Sektflaschen bis zu zuckenden Tintenfischen, doch zielgerichtete Bewegung findet nicht statt.
Alle Gestalten dämmern oder warten in Zwischenräumen, Grenzbereichen und statischen Positionen. Auf dem Orchestergraben-Gemälde spielen Joker, Gangster und eine ermattete Dame gelangweilt Flaschendrehen. Bei „Warten auf das Andere“ hocken Würfelspieler im grünlich gedämpften Schein muschelförmiger Lampen, während im Hintergrund eine Art Josephine-Baker-lookalike im freizügigen Glitzerkleid vorbeischwebt.
Conchita Wurst spreizt sein Gefieder
In einer von Wellen durchpulsten Hotel-Korridor greifen Hände nach Geldscheinen, während ein körperloser Kellner sein Kaffeetablett fallen lässt. Das Arrangement wird zur einsamen Bühne für einen Pfau, der sein Gefieder spreizt. Sein Gesicht gemahnt an einen androgynen Jüngling; vielleicht Jesus Christus oder den Schlager-Sänger Conchita Wurst? Diese Gestalt taucht öfter auf.
Auf anderen Bildern knallen Objekte und Konzepte unvermittelt aufeinander. Bei „Rainbow Worrier“ wird ein Regenbogen durch fliegende Puzzleteile durchtrennt. Puzzle und Kette sind Elemente, die Martin häufig verwendet. Gemeinhin steht die Kette als Metapher für die logische Abfolge von Ideen, das Puzzle für das Sich-Ineinander-Fügen.
Wimmelbilder über Todsünden
Zugleich ist man aber im Englischen auch puzzled, wenn man verwirrt ist und noch herausfinden muss, wie alles zusammenpasst. Wer puzzled ist, ist eher ein worrier, ein sich Sorgender, und kein warrior, also Krieger. In diesen Werken werden geläufige Identitäten aufgelöst; ihre Bruchstücke fliegen ziellos durch den Raum.
Finster wird es bei der Reihe von acht großformatigen Zeichnungen, die seit 2012 entstanden ist. Die Serie „Im Immer“ besteht aus Wimmelbildern mit weißen Linien auf farbigem Grund. Es sind riesige, fantastische Landschaften voller miteinander verschränkter Einzelszenen. In ihnen bebildert Martin die christlichen Todsünden, die der scholastische Denker Thomas von Aquin im Hochmittelalter klassifizierte.
Hochfinanz-Bankiers im Vomitorium
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Die Halluzinierte Welt – Malerei am Rand der Wirklichkeit" - mit Werken von Berhard Martin im Haus am Lützowplatz, Berlin
und hier eine Besprechung der Ausstellung "Norbert Bisky – Zentrifuge" - mitreißende Werkschau des Leipziger Malers in der Kunsthalle Rostock
und hier einen Bericht über die Ausstellung “Dresdener Paraphrasen” mit Malerei + Grafik von Gert & Uwe Tobias im Kupferstichkabinett Dresden + der CFA-Galerie, Berlin.
Da spähen die Schlümpfe entsetzt aus einem Horrorhaus, in dem eine Folterorgie stattfindet. Dagegen wirkt das Motiv der Völlerei schon fast zahm umgesetzt: Hochfinanz-Bankiers entleeren sich im Vomitorium. Solche Schreckens-Panoramen stecken voller makabrer Details, zum Beispiel am Spieß gebratene Igel.
Achte Todsünde: Spionage + Verrat
Wurden Sünden einst als Verstöße gegen göttliche Gebote gedeutet, sieht Martin darin die Abkehr vom Humanen: Die dargestellten Figuren können sich „hemmungslos jedes gesellschaftlichen Zwangs entledigen und bis zum Bodensatz der eigenen Abgründe herabwürdigen“. Dabei fügt er den klassischen sieben Sünden eine achte hinzu: Spionage und Verrat.
Gegenseitige Beobachtung und Öffentlichkeit, die in einer demokratischen Gesellschaft Würde und Verantwortung garantieren sollten, schlagen um in allgegenwärtige Überwachung und totale Kontrolle. So erweist sich Martin als Moralist des NSA-Zeitalters: Hier haben seine cartoon-Figuren nichts mehr zu lachen.