
Die Zeit ist aus den Fugen, und die Zeitgenossen ebenfalls: In allen Varianten von Verwahrlosung und Verblödung posieren sie vor der Kamera. Ukrainische Obdachlose geben ihre geschundenen und versehrten Körper zudringlichen Blicken preis: Von Alkohol- und Drogen-Missbrauch gezeichnet, von Kälte und Gewalt gepeinigt, zeigen sie ihre Wundmale vor, als wären es Stigmata.
Info
Boris Mikhailov:
Time is out of joint -
Fotografien 1966 - 2011
24.02.2012 - 28.05.2012
täglich außer dienstags
10 bis 18 Uhr in der
Berlinischen Galerie,
Alte Jakobstraße 124 - 128, Berlin
Postsowjetische Not-Aufnahmen
Solche Schock-Fotos machten Boris Mikhailov Mitte der 1990er Jahre im Westen schlagartig bekannt. Er führte schonungslos vor, wie die postsowjetische Gesellschaft zerfiel und eine brutale Not zeitigte, die Europa seit Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr erlebt hatte. In seinen «Krankengeschichten» tauchen Geschwüre und Verstümmelungen aller Art auf – was ihm zuweilen den Vorwurf eintrug, er stelle die Opfer der Verhältnisse bloß.
Feature mit Statements von Boris Mikhailov + Direktor Thomas Köhler; © Berlinische Galerie
In der Dämmerung am Boden
Mit einer Horizont-Kamera, die im 120-Grad-Winkel aufnimmt, lichtete er in Hüfthöhe Alltags-Szenen für seine Bilder-Serien «Am Boden» und «Dämmerung» ab. Sie zeigen Untergangs-Stimmung in antiquierten Sepia- oder verwaschenen Blau-Tönen: Verfallende Ruinen, stürzende Linien und Gestrauchelte; leblose Leiber, um die sich keiner kümmert – Weltende.
Dabei hatte der 1938 in Charkow geborene Ukrainer jüdischer Herkunft keineswegs als Elends-Chronist begonnen. Ab den 1960er Jahren dokumentierte er das Privat-Leben von Sowjet-Bürgern und ihr bescheidenes Glück in der Breschnew-Ära: von fast mondän anmutender Sommerfrische auf der Krim bis zu proletarischen Badefreuden im Salzwasser-See neben Industrie-Anlagen.
Frauenleib wie Wurstmasse
In den 1970er Jahren schloss sich Mikhailov den «Moskauer Konzeptualisten» an. Indem er banale Schnappschüsse von Hand kolorierte, entstand seine «Rote Serie»: Grelles Rot, die Symbol-Farbe des Sozialismus, mutierte so zum allgegenwärtigen wie trivialen Erkennungs-Mal der Epoche.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Wyssozki – Danke, für mein Leben" über den berühmtesten Liedermacher der Sowjetunion
und hier einen Beitrag über die Fotografie-Ausstellung "Stiller Widerstand. Russischer Piktorialismus 1900 – 1930" im Martin-Gropius-Bau, Berlin
und hier eine Besprechung des Dokumentarfilms “Der Fall Chodorkowski“ über den inhaftierten Öl-Milliardär und Putin-Gegner
und hier ein Interview mit Regisseur Cyril Tuschi über Filmemachen in Russland unter Putin
und hier einen Bericht über die Ausstellung "Heimatkunde" im Jüdischen Museum Berlin mit Beiträgen von Boris Mikhailov.
SS-Dominas die Stiefel lecken
Nackte Tatsachen steigerte Mikhailov in den 1990er Jahren zu äußerster Drastik. Die Serie «Wenn ich ein Deutscher wäre…» bebildert Rollen- und Gedankenspiele über die Besetzung der Ukraine durch deutsche Truppen im Zweiten Weltkrieg – ein Tabu-Thema bis zum Ende der Sowjetunion. Nach ihrem Zerfall reizen es diese grotesken Inszenierungen aus: Kollaborateure himmeln Offiziere und Dominas in SS-Uniformen an, lecken ihnen die Stiefel oder gleich die Geschlechtsteile.
Im Jahr 2000 zog Mikhailov nach Berlin um, doch blieb er seiner Motiv-Welt treu. Penner, die niemand beachtet, gibt es auch hierzulande – er porträtiert sie als komische Heilige. Ebenso wie einen Nudisten, der seine Frau Vita belästigt, während sie im Eva-Kostüm ein Sonnenbad nimmt – ihr Mann hält das befremdliche Geschehen fotografisch fest.
Lebenswerk voller Mitgefühl
Dabei ist sein Blick auf den Bodensatz der Gesellschaft oder ihre bizarren Randphänomene nie voyeuristisch, sondern stets von Mitgefühl bestimmt: Nichts Menschliches ist ihm fremd. Sein Lebenswerk präsentiert die Berlinische Galerie nun erstmals umfassend in Deutschland – in einer so nüchternen wie kongenialen Inszenierung.