Sie haben fünf Jahre an Ihrem Dokumentarfilm gearbeitet – was hat Sie so sehr am «Fall Chodorkowski» gereizt?
Hätte ich gewusst, dass die Dreharbeiten so lange dauern würden, hätte ich mich wohl nicht darauf eingelassen. Aber die Figur Chodorkowski polarisiert: Als er in der Sowjetunion aufwuchs, glaubte er an das System. Später bekehrte er sich zum Kapitalismus. Jetzt spielt er die Rolle eines Märtyrers; für viele ist er ein Held, für andere der Teufel. Diese Wandlungen und Ambivalenzen haben mich fasziniert.
Macho-Hahnenkampf mit Putin
Um die wahren Gründe für seine Festnahme ranken sich viele Spekulationen. Was denken Sie: Warum wurde er festgenommen und ist seither – nach fingierten Prozessen – in Haft?
Chodorkowski sagt, entscheidend sei seine Unterstützung für die Opposition in Russland gewesen – das ist ein Teil der Wahrheit. Daneben ging es um Geld: Leute im Kreml wollten sich seinen Yukos-Konzern aneignen. Außerdem war es ein Hahnenkampf zwischen zwei Machos, ihm und Putin – unter Frauen wäre die Affäre wohl nicht eskaliert.
Ausschlaggebend war jedoch, dass er aus einem System der Komplizenschaft und Mitschuld aussteigen wollte – das wurde ihm nicht erlaubt. Alle russischen Oligarchen haben Leichen im Keller. Das müssen sie aushalten und zugleich die anderen in Schach halten: Niemand darf sich von seiner Schuld befreien. Chodorkowski wollte diesen Teufelskreis verlassen; damit ging er zu weit.
Video-Interview mit Regisseur Cyril Tuschi
Prahlerei des Chevron-Chefs
Sie zeigen ausführlich seine großzügige Förderung zivilgesellschaftlicher Strukturen. Nun ist die russische Geschichte reich an Radikalreformern mit leicht messianischen Zügen. Gleichzeitig wollte Chodorkowski mit US-Konzernen ins Geschäft kommen. Was hat ihn zu Fall gebracht: Sendungsbewusstsein oder Geschäftssinn?
Die Jagd der Staatsorgane auf ihn begann, als er bei einem Treffen im Kreml vor laufenden TV-Kameras mit dem Vorwurf provozierte, Putin decke die Korruption im Staatsapparat. Möglicherweise lief das Fass über, als der Chevron-Chef dem Präsidenten erzählte, sein Unternehmen werde die Mehrheit an Jukos übernehmen: Putin soll fuchsteufelswild geworden sein. Dabei hatte der Chevron-Chef gelogen: Verhandelt wurde nur über eine Minderheitsbeteiligung an Jukos.
Oligarchen finanzieren kritische Medien
Anfangs stoßen Sie auf eine Mauer des Schweigens. Weder Michail Gorbatschow noch diverse Reform-Regierungschefs der 1990er Jahre wollen vor der Kamera sprechen. Wie ist es Ihnen gelungen, dennoch Interview-Partner mit Insider-Wissen zu finden?
Selbst Freunde und Geschäftspartner von Chodorkowski hielten sich zurück, etwa Leonid Newslin in Israel. Ich musste zwei Jahre lang Vertrauen aufbauen, bevor Newslin zum persönlichen Gespräch bereit war. Solches Misstrauen ist begründet: In Russland gibt es kaum unabhängigen Journalismus. Kleine kritische Medien wie «Nowaja Gaseta», «New Times» oder «Ekho Moskwy» werden nur geduldet, um im Westen sagen zu können: «Wir haben eine freie Presse». Auch diese Medien werden aber von Oligarchen finanziert.
Verschwundene Yukos-Millionen
Dass Vertreter der «Partei der Macht» nicht mit Ihnen sprechen wollten, leuchtet ein. Warum aber weigerten sich ehemalige Yukos-Führungskräfte, die heute im Exil Däumchen drehen?
Der ganze zweite Prozess gegen Chodorkowski (wegen angeblichen Diebstahls von gefördertem Öl, A.d.R.) ist ein PR-Eigentor. Offenbar riskiert Putin solche Eigentore, weil ihm enorm wichtig ist, dass sein Rivale im Gefängnis bleibt – wegen der abschreckenden Wirkung auf andere Oligarchen.
Dass frühere Jukos-Mitarbeiter sich ausschwiegen, hat verschiedene Gründe: vor allem Angst, dass ich ein Kreml-Spion sein könnte. Viele sind traumatisiert, andere haben Heimweh und würden gern nach Russland zurückkehren. Überdies spielen gegenseitige Anschuldigungen eine Rolle. Als Jukos zerfiel, hat sich der Kreml nicht alles angeeignet: Etliche Millionen verschwanden in dunklen Kanälen.
Radioaktiv verseuchte Haftanstalt
Deutschland hat sich in der Affäre Chodorkowski nicht mit Ruhm bekleckert – das zeigen Äußerungen von Ex-Bundeskanzler Schröder und ein Interview mit Joschka Fischer. Dagegen kommt innerrusische Kritik an ihm kaum zur Sprache: warum?
Aus Zeitgründen habe ich mich auf den Konflikt zwischen Putin und Chodorkowski konzentriert. Der Hass vieler Russen auf ihn als reichen Juden oder ihre Ignoranz ist ein vielschichtiges Thema und könnte einen eigenen Film füllen.
Sie haben bei den Dreharbeiten weder Kosten noch Mühen gescheut, sind zu Gerichtsterminen in Tschita östlich des Baikalsee gefahren und haben das Gefängnis im sibirischen Krasnokamensk gefilmt, wo Chodorkowski einsaß. Wird er die Haft eines Tages verlassen dürfen oder bis an sein Lebensende eingesperrt bleiben?
Das Gebiet von Krasnokamensk ist radioaktiv verseucht, weil dort Uran abgebaut wurde. Manche mutmaßen, Chodorkowski wurde absichtlich dorthin verbannt, damit er erkrankt. Nach der Personalrochade zwischen Putin und Medwedjew (Putin will bei der nächsten Präsidentschaftswahl 2012 wieder antreten, A.d.R.) sieht es düster aus.
Zudem hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschieden, die Prozesse gegen Chodorkowski seien nicht politisch motiviert – dieses Urteil ließ den Kreml aufatmen. Für ihn wäre taktisch am geschicktesten, wenn Chodorkowski kurz vor oder nach der nächsten Präsidentschaftswahl frei käme.