Sandra Hüller

The Zone of Interest

Fröhliches Treiben im Garten der Familie Höß. Foto: Leonine Distribution
(Kinostart: 29.2.) Big Brother in der Nazi-Villa: Regisseur Jonathan Glazer beobachtet die Familie von Rudolf Höß, Lagerkommandant in Auschwitz, aus der Distanz. Dabei bedient er keine Stereotype über KZs und den Holocaust – für ein erschütterndes Dokument über die menschliche Fähigkeit zur Verdrängung.

„Die wächst irgendwann noch zu“, erklärt Hedwig Höß (Sandra Hüller) ihrer Mutter mit Blick auf eine graue Mauer, die ihre sorgsam gehegten Beete vom Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau trennt. Der große Garten und das komfortable Haus sind der ganze Stolz der Frau des Lagerkommandanten; sie schmückt sich gern mit Pelzmänteln, die den Häftlingen weggenommen wurden. Haus, Hof und die fünfköpfige Kinderschar bewirtschaftet sie mit Hilfe mehrerer Untergebener. Alles ist schön adrett auf Linie gebracht; in diesem Arrangement tanzen weder Pflänzchen noch Kinder aus der Reihe.

 

Info

 

The Zone of Interest

 

Regie: Jonathan Glazer,

105 Min., Großbritannien/ USA/ Polen 2023;

mit: Christian Friedel, Sandra Hüller, Ralph Herforth

 

Weitere Informationen zum Film

 

Vom Pionierleben im Osten hat die burschikose Frau immer geträumt. Entsprechend unwillig zeigt sie sich, als Ehemann Rudolf (Christian Friedel) im November 1943 nach Berlin-Oranienburg zum SS-Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt abberufen wird. Seit Mai 1940 war Höß Lagerkommandant in Auschwitz und damit für den effizienten Betrieb der Vernichtungsmaschinerie zuständig. Hedwig hat sich drei Jahre lang in Auschwitz wohnlich eingerichtet – ihr Gatte soll gefälligst allein zurück nach Berlin ziehen.

 

Alltag in der KZ-Nachbarschaft

 

Das ist der dramatische Höhepunkt von „The Zone of Interest“. Der Begriff „Interessengebiet“ war die Bezeichnung der SS für das Sperrgebiet rund um das Vernichtungslager. Der britische Autor Martin Amis verwendete sie als Titel für seinen Roman, der als Vorlage dient. Dabei schert sich Regisseur Jonathan Glazer nicht um gängige Handlungs-Schemata. Sein Film besteht vorwiegend aus Alltagsszenen: sommerliche Familienausflüge an den Fluss, eine Geburtstagsfeier, der Besuch von Oma aus dem Reich, gemeinsame Mahlzeiten, abendliches Vorlesen für die Kinder, eine Gartenparty, später Höß’ Arbeitsleben in Berlin.

Offizieller Filmtrailer


 

Über das Offensichtliche schweigen

 

All der Schrecken, der sich auf der anderen Seite der Mauer abspielt, wird im Bild nicht gezeigt. Nur ab und zu sieht man Andeutungen: einen rauchenden Krematoriums-Schlot oder eine Szene, in der die Asche aus den Krematorien in den Fluss neben dem Lager gespült wird. Höß’ Kinder, die zufällig dort gebadet haben, werden danach schön sauber geschrubbt.

 

Über das, was man nicht sieht, wird auch nicht geredet. Mehr noch, die Sprache tritt in den Dienst der Verschleierung. So redet etwa Rudolf Höß mit Vertretern der Erfurter Firma „Topf & Söhne“, die ihm erfolgreich noch leistungsfähigere Öfen für die Krematorien anpreisen. Auch bei Besprechungen der SS-Verwaltung in Berlin verbirgt sich das Grauen der Menschenvernichtung stets hinter technokratischen Termini.

 

Gegensatz von Bild- + Ton-Ebene

 

Nur Hedwig Höß reißt diese Fassade der Wohlanständigkeit ein paar Mal ein, wenn sie das Personal wegen Kleinigkeiten anfährt und den Angestellten droht, ihnen ihr Wohlwollen zu entziehen. Allen sind die potenziell tödlichen Konsequenzen ihres Unmuts bewusst.

 

Wichtiger noch als Sprache und Bilder ist die Tonspur, denn Geräusche lassen sich anders als Bilder kaum ausblenden. Man hört Schreie, Schüsse oder Kommandos – die oft mit Ansichten einer Sommeridylle kontrastieren. Diese totale Gegensatz von Bild- und Ton-Ebene ist ein ungewöhnlicher Kunstgriff; er trägt entscheidend zum nachhaltigen Unbehagen bei, das der Film auslöst.

 

Ehebruch mit einer Lagerinsassin

 

Regisseur Glazer vermeidet alles, was Empathie für seine beiden Hauptfiguren wecken könnte – aber er macht sie auch nicht zu Bestien, von denen sich zu distanzieren leicht wäre. Gäbe es nicht das Lager im Hintergrund, würden Rudolf und Hedwig geradezu langweilig und spießig wirken. Rudolf tut, was er für seine Pflicht hält, ohne diese zu hinterfragen. Hedwig profitiert von den Privilegien, welche die Stellung ihres Mannes mit sich bringt. Alles andere interessiert sie nicht.

 

Ihre Ehe beruht auf einem völkischen Familienideal, das beide teilen. Ansonsten zeigt Rudolf Höß mehr Zuneigung zu seinem Pferd als zu seiner Ehefrau, die er mit einer Lagerinsassin betrügt. Nach dem Ehebruch wäscht er sich sorgfältig sein Geschlechtsteil. So wirkt „The Zone of Interest“ geradezu wie eine filmische Umsetzung von Hannah Arendts berühmtem Diktum von der „Banalität des Bösen“.

 

Mit versteckten Kameras gedreht

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Persischstunden" – fiktives KZ-Drama über Überleben durch erfundene Sprache von Vadim Perelman mit Lars Eidinger

 

und hier eine Besprechung des Films "Paradies" – beeindruckend facettenreiches KZ-Drama von Andrej Kontschalowski

 

und hier einen Bericht über den Film "The Survivor" – überzeugendes Porträt eines KZ-Überlebenden, der Profi-Boxer wird, von Barry Levinson

 

und hier eine Kritik des Films "Der Staat gegen Fritz Bauer" – berührendes Biopic über den Staatsanwalt, der Adolf Eichmann aufspürte, von Lars Kraume 

 

und hier einen Beitrag über den Film "Hannah Arendt" – faszinierendes Porträt der Philosophin während des Eichmann-Prozesses von Margarethe von Trotta.

 

Dabei beobachtet der Film meist aus der Distanz. Gedreht wurde mit mehreren fest installierten, teilweise versteckten Kameras gleichzeitig; so blieben Regisseur und Kameramann stets entfernt von den Darstellern. Dieses unübliche Verfahren, das Glazer als „Big Brother in der Nazi-Villa“ bezeichnet, gab den Schauspielern viel Raum für Improvisation. Die Inszenierung gerät so unmittelbar und intensiv wie bei einem Theaterstück.

 

Ihm zuzusehen, wäre auf Dauer unerträglich, wenn Glazer die Handlung nicht mehrmals brechen würde. Kurze, stilistisch verfremdete Einschübe zeigen ein Mädchen, das Äpfel für die Lagerinsassen versteckt; es offenbart damit eine Menschlichkeit, die der Höß-Familie längst abhanden gekommen ist.

 

Kompromisslosigkeit + Wagemut

 

Natürlich fragt man sich die ganze Zeit: Wie können diese Menschen verdrängen, was hinter der Mauer geschieht? Wie können sie es so abspalten, dass sie ihre Kaffeekränzchen in unmittelbarer Nachbarschaft von Erschießungs-Kommandos und Gaskammern abhalten? Nicht von ungefähr verschließt Rudolf Höß jeden Abend sorgfältig alle Türen des Hauses. Was das Grauenhafte an diesem Film ist: „The Zone of Interest“ spielt sich längst nicht so weit entfernt vom eigenen Leben ab, wie der Zuschauer es gern hätte. Gedreht wurde übrigens in Polen in unmittelbarer Nähe zum ehemaligen Konzentrationslager.

 

Damit holt Jonathan Glazer die Geschichte in die Gegenwart. So kann sich das Publikum nicht der Illusion hingeben, das Geschehen spiele sich in einer längst vergangenen Barbarei ab, die mit dem Hier und Heute nichts zu tun habe. Sentimentale Betroffenheit ist dem Film fremd; er erinnert eher an eine wissenschaftliche Versuchsanordnung. Durch künstlerische Kompromisslosigkeit und formalen Wagemut verunsichert er nachhaltig, was lange nachwirkt.