Wenn die Realität ausgeschöpft scheint, schlägt die Stunde der Fantasie. Das gilt offenbar auch für das heikle Thema der NS-Vernichtungsmaschinerie. Als Roberto Benigni 1997 „Das Leben ist schön“ drehte, wurde noch diskutiert, ob man ein Konzentrationslager zum Schauplatz einer absurden Tragikomödie machen dürfe – doch der immense Erfolg des Films ließ alle Zweifler verstummen. Seither wird auf der Leinwand öfter das geläufige Täter-Opfer-Schema durchbrochen, um ambivalente Wechselbeziehungen beider Seiten auszuloten.
Info
Persischstunden
Regie: Vadim Perelman,
127 Min., Deutschland/Russland 2019;
mit: Lars Eidinger, Nahuel Pérez Biscayart, Jonas Nay
Rabbinersohn gibt sich als Perser aus
Darin greift Vadim Perelman, in den USA lebender Regisseur ukrainischer Herkunft, den Stoff einer Erzählung des renommierten Drehbuchautors Wolfgang Kohlhaase auf. Im besetzten Frankreich 1942 entkommt der belgische Rabbinersohn Gilles (Nahuel Pérez Biscayart) einer Massenhinrichtung durch die SS, weil er vorgibt, Perser zu sein; zufällig trägt er ein Buch auf Farsi mit sich.
Offizieller Filmtrailer
Als Küchenhilfe Vokabeln ausdenken
Diese Sprache will Hauptsturmführer Klaus Koch (Lars Eidinger) unbedingt lernen. Der gelernte Chefkoch leitet in einem Durchgangslager die Großküche, will aber nach dem Krieg ein deutsches Restaurant in Teheran eröffnen, wo sein Bruder leben soll. Also bietet er Gilles Schutz durch Beschäftigung in der Küche an, wenn der Häftling ihm dafür Farsi beibringt. Dass Gilles zugeben muss, die Sprache nicht schriftlich zu beherrschen, stört Koch nicht; ihm genügen die Vokabeln in lateinischer Transkription.
Nun erfindet Gilles Tag für Tag neue Wörter, die Koch fleißig büffelt. Um sich die erfundenen Begriffe selbst einprägen zu können, nutzt Gilles improvisierte Merkhilfen – etwa die Namen der Neuankömmlinge, die er in langen Listen notieren muss. Dennoch droht ihm mehr als einmal, als Hochstapler enttarnt zu werden: durch eigene Versprecher, missgünstiges Wachpersonal oder die Gegenüberstellung mit einem echten Perser im Lager. Bevor es dazu kommt, wird jener von Mitgefangenen ermordet.
Wechselbad aus Annäherung + Klischees
Je länger die bizarre Lehrer-Schüler-Beziehung andauert, desto enger wird sie. Der eigentlich unpolitische Koch öffnet sich gegenüber Gilles, erzählt ihm vom Zerwürfnis mit seinem Bruder und verfasst Verse in der Pseudo-Farsi-Fantasiesprache. Er bewahrt den Häftling davor, deportiert zu werden, indem er ihn zeitweise auf einem Bauernhof versteckt, und schenkt ihm die Freiheit, als das Lager bei Kriegsende vor Ankunft der Alliierten evakuiert wird.
Hintergrund
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Unglaubwürdige Handlung
Allerdings krankt die Plausibilität der Darstellung an arg konstruierten Voraussetzungen. Dass ein SS-Hauptsturmführer ausgerechnet in den – damals von britischen und sowjetischen Truppen besetzten – Iran auswandern will, wirkt ebenso unglaubwürdig wie die phänomenale Mnemotechnik des Rabbinersohns, der fast ohne Hilfsmittel ein ganzes Wörterbuch im Kopf behält. Und zudem den alliierten Befreiern zweieinhalbtausend Häftlingsnamen auswendig vortragen kann.
Eine exotische Sprache als geistige Ebene, auf der sich auch Todfeinde begegnen können: Diese schöne Kopfgeburt ist, wie viele kulturelle Utopien, reichlich weltfremd. Kohlhaases Parabel will Regisseur Perelman mit akkurat detailgetreuer Inszenierung einen realistischen Anstrich geben, was scheitern muss. Trotz der beeindruckenden Darbietung von Lars Eidinger und Nahuel Pérez Biscayart, die der seltsamen Konstellation ihres ungleichen Duos alle denkbaren Nuancen entlocken.