Vor 100 Jahren, am 12. März 1912, eröffnete Herwarth Walden in Berlin seine Galerie «Der Sturm». Sie gilt – ebenso wie die gleichnamige, zwei Jahre zuvor gegründete Zeitschrift – als einer der wichtigsten Wegbereiter des Expressionismus vor dem Ersten Weltkrieg. Doch der Werdegang von Walden und seiner Galerie reicht weit darüber hinaus.
Info
Der Sturm –
Zentrum der Avantgarde
13.03.2012 - 10.06.2012
täglich außer montags 11 bis 18 Uhr, donnerstags + freitags bis 20 Uhr, am Wochenende ab 10 Uhr im Von der Heydt-Museum, Turmhof 8, Wuppertal
Essay- + Bildband: einzeln 25 €, zusammen 40 €
Ehe mit Else Lasker-Schüler
Obwohl die gleichnamige Galerie und ihr Gründer stets mit Berlin assoziiert werden; ihre Räume lagen in der Potsdamer Straße 134 a. Dennoch war Walden der Schwebebahn-Stadt eng verbunden – weil hier die Kunst der Moderne bereits Fuß gefasst hatte, aber vor allem aus Liebe: Seit 1903 war er mit Else Lasker-Schüler verheiratet, die aus Wuppertal-Elberfeld stammte.
Feature zur Ausstellung "Sturm-Frauen - Künstlerinnen der Avantgarde in Berlin 1910-1932" in Frankfurt 2015/2016 ; © Schirn Kunsthalle
Lasker-Schüler erfindet Pseudonym
Die überkandidelte Dichterin, die gern als orientalischer «Prinz Jussuf von Theben» auftrat, erfand nicht nur für ihren Gatten Georg Lewin sein künftiges Pseudonym Herwarth Walden. Sie führte ihn auch in die rheinische Kunstszene ein. Im Kunstverein von Wuppertal-Barmen wurden ab 1911 expressionistische Maler wie Oskar Kokoschka, Wassiliy Kandinsky und Franz Marc vorgestellt
Daran knüpfte Herwarth Walden an. Als die Expressionisten von der «Sonderbund»-Ausstellung 1912 in Köln abgelehnt wurden, lotste Walden sie nach Berlin: In der ersten «Sturm»-Ausstellung zeigte er Mitglieder des «Blauen Reiters» wie Kandinsky, Marc, August Macke, Alexander Jawlensky und Gabriele Münter.
Futuristen-Flugblätter aus fahrenden Autos
Die zweite Ausstellung 1912 führte italienische Futuristen wie Umberto Boccioni, Carlo Carrà und Gino Severini in Deutschland ein. Mit großem Aplomb: Walden ließ Manifeste des Futuristen-Vordenkers Filippo Marinetti an Litfaß-Säulen kleben oder Flugblätter und Plakate aus fahrenden Autos in die Menge werfen. Die neuartige Werbe-Kampagne hatte Erfolg: Täglich kamen bis zu tausend Neugierige in die Galerie.
Der «Erste Deutsche Herbstsalon» von April bis Dezember 1913 setzte die Expressionisten endgültig durch: Nun konnte Walden ihre Werke auch verkaufen. In den Folgejahren blühte seine Galerie; hier war alles zu sehen, was neu und umstritten war. Die Liste der gezeigten Künstler aus ganz Europa liest sich wie ein «Who is who» der Moderne.
AA zahlt üppig für Übersetzungen
Sie reicht von Lyonel Feininger und Paul Klee, Robert Delaunay und seiner Frau Sonja über russische Kubofuturisten wie Alexander Archipenko oder Natalja Gontscharowa bis zu Konstruktivisten wie Ivan Puni und Oskar Schlemmer und Einzelgängern wie Henri Rousseau, Marc Chagall und Kurt Schwitters. Zugleich entfaltete ihr Galerist fieberhafte Aktivitäten – mitten im Ersten Weltkrieg.
Er gründete einen Kunstbuch-Verlag samt Buchhandlung sowie eine «Sturm»-Bühne und -Schule, wofür er Avantgarde-Künstler als Lehrer anheuerte. Zur Finanzierung reichten die Galerie-Erlöse nicht aus. Das Auswärtige Amt entlohnte Walden für nachrichtendienstliche Tätigkeit – vorgeblich Übersetzungen aus niederländischen und schwedischen Zeitungen: Seit 1912 war er mit der schwedischen Malerin Nell Roslund verheiratet.
1000 Reichsmark für Niederlande-Reise
Allerdings kassierte Walden in damaliger Kaufkraft enorm hohe Beträge. Beispielsweise 1000 Reichsmark nach einer Stippvisite in den Niederlanden: Welche Spionage-Dienste er dafür geleistet hat, lässt sich nicht mehr ermitteln. Offenbar hat die Reichs-Regierung mit diesen Zahlungen unwillentlich der künstlerischen Moderne in Deutschland zum Durchbruch verholfen – während Kaiser Wilhelm II. gegen ihm verhasste «Rinnstein-Künstler» wetterte.
Diese Pointe und viele andere überraschende Details bereitet das Museum anschaulich auf. Es hat Werke von rund 80 Künstlern zusammen getragen, die alle einst in der Galerie zu sehen waren – nach Jahrgängen geordnet in einzelnen Kabinetten, die jeweils einer oder mehreren Sturm-Ausstellungen gewidmet sind.
KPD-Mitglied seit 1919
Darunter echte Wiederentdeckungen wie die Holländerin Jacoba von Heemskerck oder die Belgierin Marthe Donas, die hierzulande später in Vergessenheit gerieten. Hingegen zählt die Porträt-Büste von Walden, die William Wauer 1917 schuf, längst zu den Ikonen der klassischen Moderne.
Nach Kriegsende sank allerdings der Stern des Galeristen. Er trat 1919 in die KPD ein und begeisterte sich für radikale Avantgardisten aus Osteuropa, etwa ungarische Konstruktivisten wie Lajos Kassák, László Péri und Lászlo Mohóly-Nagy. Ebenso stellte er Esoteriker wie Georg Muche, Johannes Itten oder Johannes Molzahn aus, deren abstrakten Kompositionen «kosmische»Ideen vermitteln sollten.
Alles als Expressionismus etikettiert
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Feininger aus Harvard" mit Werken aus dem Busch-Reisinger Museum in Berlin + München
und hier einen Bericht über die Ausstellung "William Wauer und der Berliner Kubismus" in Berlin + Neu-Ulm
und hier einen kultiversum-Artikel zur Ausstellung der Zeichnungen von Else Lasker-Schüler in Frankfurt/Main + Berlin
und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Laszlo Moholy-Nagy: Kunst des Lichts" im Martin-Gropius-Bau, Berlin
und hier eine Kritik der Ausstellung "Gesamtkunstwerk Expressionismus" im Institut Mathildenhöhe, Darmstadt.
Unter der Hyperinflation von 1923, die das Bildungs-Bürgertum verarmen ließ, litt auch die Galerie. Häufig stellte Walden nur noch seine Räume zur Verfügung; die Künstler selbst mussten Kosten für den Transport ihrer Werke übernehmen. Auch die Sturm-Zeitschrift erschien seltener und in reduziertem Umfang. 1932 war ihr Gründer bankrott.
Opfer stalinistischer Verfolgung
Er emigrierte nach Moskau, wo er als Verleger und Lehrer arbeitete – eine fatale Entscheidung. Als nach dem Einmarsch der Wehrmacht in die Sowjetunion Stalin viele deutsche Kommunisten als angebliche Verräter verhaften ließ, war auch Walden darunter. Den Strapazen von Haft und Folter fiel er bald zum Opfer: Im Oktober 1941 starb er bei Saratow an der Wolga im Gefängnis.
Dieses traurige Ende mindert nicht seine Bedeutung für die Kunstgeschichte: Er war ein hyperaktiver Impresario, der nach Kräften die Idee vom Gesamtkunstwerk förderte und damit die Menschheit von Grund auf erneuern wollte. Dass seine utopischen Erwartungen in die Gräueltaten des Stalinismus mündeten – diese bittere Erfahrung teilte er mit vielen seiner Künstler. Insofern steht Waldens Schicksal exemplarisch für Wohl und Wehe der Klassischen Moderne.