Kassel

dOCUMENTA (13)

Der erste feste Museums-Bau in Europa und alle fünf Jahre zentraler Ausstellungs-Ort der documenta: das Fridericianum in Kassel. Foto: Nils Klinger/ dOCUMENTA (13)
Jetzt schlägt’s dreizehn: Leiterin Carolyne Christov-Bakargiev bemüht sich nach Kräften, mit wirren Worten und Taten die weltgrößte Kunst-Schau zu ruinieren. Ohne Erfolg: In der Überfülle von 300 Beiträgen finden sich beeindruckende Werke.

Ausfransender Flicken-Teppich

 

Man darf sich die dOCUMENTA (13) am ehesten als lockeren Flickenteppich vorstellen, der nach allen Seiten ausfranst. Allerdings nicht als Woll-Knäuel: In der Mitte – an den vier wichtigsten Ausstellungs-Orten Fridericianum, documenta-Halle, Neue Galerie und Ottoneum – ist das Gewebe fester gewirkt; hier zeigt sich deutlich die Handschrift der Leiterin.

 

Sie hat die Rotunde im Erdgeschoss des Fridericianums zum «Brain» der Schau erklärt; das erlaubt quasi Einblicke in CCBs graue Zellen. Hier stehen 4000 Jahre alte baktrische Tonfiguren unklarer Bedeutung, die Archäologen in Afghanistan ausgruben, neben Objekten, die im libanesischen Bürgerkrieg beschädigt wurden.

 

Leerer Saal mit leichtem Luftzug

 

Fotos von Hitlers Privat-Wohnung in München, die 1945 Lee Miller aufnahm, während sie in seiner Wanne badete, hängen neben einem Ölbild von Mohammad Yusuf Asefi: Er überpinselte Gemälde in Afghanistan, um sie vor der Zerstörung durch Taliban zu retten. Schlichte Gefäße von Giorgio Morandi, der sie erst glasierte und ab 1949 mit derselben Farbe auf Leinwände malte, stehen neben Technik-Modellen von Konrad Zuse, dem Erfinder des Computers.

 

Dieses Sammelsurium aus ramponierten – in CCBs Sprachgebrauch «traumatisierten» – objets trouvés, zu Recht vergessenen Werken nachrangiger Künstler des 20. Jahrhunderts und digital gadgets findet sich auch im übrigen Fridericianum. Sowie das reine Nichts: Im linken Saal stellt Ryan Gander den «leichten Luftzug» aus, der hindurch weht. Nebenan beschallt Ceal Floyer einen leeren Raum mit dem Refrain eines Soul-Songs aus Lautsprechern.

documenta 13: Impressionen der Ausstellung in der Neuen Galerie


 

Schützengraben-Schrott aus dem Ersten Weltkrieg

 

Die Rotunde im ersten Stock pflastern Wandteppiche mit naiven Motiven von Hannah Ryggen: Damit protestierte die Norwegerin in den 1930/40er Jahren gegen Faschismus und Krieg. Gegenüber hat der Quanten-Physiker Anton Zeilinger seine Versuchs-Apparate aufgebaut: Assistenten erzählen Besuchern von der Forscher-Jagd auf subatomare Teilchen.

 

Unter den 300 Beiträgen kann man gleichwohl beeindruckende Werke aufspüren – etwa «The Repair» von Kader Attia. Der Franzose algerischer Herkunft trägt im Obergeschoss des Fridericianums Schützengraben-Schrott aus dem Ersten Weltkrieg zusammen, den afrikanische Handwerker weiterverarbeitet haben: Patronen-Hülsen zu Bilder-Rahmen oder Stahl-Helme zu Saiten-Instrumenten. Diese Memorabilia ergänzen Holz-Büsten von Kriegsversehrten – eine hierzulande nie gesehene Kollektion der Gräuel.

 

Eindrucksvolle Bilder aus Schwellen-Ländern

 

Nebenan kleidet Goshka Macuga aus Polen die Rotunde mit einer Tapisserie aus: Sie zeigt afghanische Würdenträger vor dem Königs-Palast aus den 1930er Jahren, der im Bürgerkrieg zerstört wurde. Seine ausgebrannten Mauern sind in einem Gebäude zu sehen, dem solch trauriges Los erspart blieb. Das Fridericianum wurde 1943 durch Bomben-Treffer ebenfalls stark beschädigt, aber längst wieder aufgebaut – der Gegensatz zwischen Dritter und Erster Welt könnte kaum sinnfälliger erscheinen.

 

Wobei Künstler aus Schwellen-Ländern durchweg die eindrucksvolleren Bild-Erfindungen mitbringen. Im Keller der documenta-Halle, den Thomas Bayrle mit leer laufenden Motoren fast allein füllt, hängt im hintersten Winkel eine traumhaft schöne Installation von Nalini Malani. Die Inderin lässt transparente und bemalte Zylinder sich drehen, während sie mehrfarbig angestrahlt werden; dazu ertönt eine Klang-Collage. Einzig dieses «Video/Schattenspiel» lohnt den Besuch in der ansonsten dürftig genutzten Halle.

documenta 13: Impressionen der Ausstellung im Ottoneum


 

Landraub sinnlich aufbereitet

 

Ihr Landsmann Amar Kanwar überrascht mit einer raffinierten Inszenierung im Ottoneum: «The Sovereign Forest» behandelt Landraub und Bauern-Vertreibung im indischen Bundesstaat Orissa. Das trockene Thema bereitet Kanwar überaus sinnlich auf: mit Film-Projektionen auf Pergament-Folianten und Saatgut in Schubladen.

 

Hintergrund

Lesen Sie hier einen Beitrag über die umkämpfte Ausstellung "Stefan Balkenhol in Sankt Elisabeth" in Kassel

 

und hier einen Bericht über die Wiedereröffnung der Neuen Galerie von Kassel im November 2011

 

und hier einen kultiversum-Bericht über das erste documenta-13-Kunstwerk “Idee di Pietra” von Giuseppe Penone.

Auch unter den Freiluft-Beiträgen im Park der Karlsaue sind einige ingeniöse Einfälle zu erleben. Dass ein oder zwei Dutzend von 300 Werken überzeugen, verwundert nicht – doch dazu braucht man keine künstlerische Leitung. Jeder brächte derlei mit dem Millionen-Budget der documenta zuwege, indem er Kataloge von zehn Groß-Ausstellungen sichtet und ausgewählte Teilnehmer nach Kassel einlädt.

 

documenta-Spezial bei Kunst+Film

 

Wo nichtsdestoweniger der umfassendste Überblick über Gegenwartskunst geboten wird, der sich denken lässt – nicht wegen, sondern trotz CCB. Deshalb begleitet Kunst+Film diese documenta mit Spezial-Berichten: 100 Tage lang werden wir Teil-Ausstellungen eingehender betrachten, einzelne Künstler samt ihren Werken vorstellen und das Geschehen kommentieren. Die weltgrößte Kunst-Ausstellung kann selbst CCB nicht ruinieren – obwohl sie sich größte Mühe gibt.