Alle verlangen nach Visionen: in Politik und Wirtschaft, Städtebau und Schaugewerbe. Wie man Visionen am laufenden Band produziert, ohne sich mit kleinlichen Einwänden über ihre Realisierbarkeit aufzuhalten, zeigt das Gesamtwerk von Friedrich Kiesler.
Die Kulisse explodiert: Frederick J. Kiesler, Architekt und Theatervisionär 21.03.2013 – 23.06.2013 täglich außer montags 10 bis 18 Uhr in der Villa Stuck, Prinzregentenstr. 60, München Katalog 29,90 € Info
Raumbühne von 1924
Von Filmprojektion und Scheinwerfer-Batterien bis zu motorgetriebener Hydraulik und Pyrotechnik: Alles sollte das Geschehen auf der Bühne optisch und akustisch aus den Angeln heben. Furore machte seine “Raumbühne” von 1924, die einer Achterbahn ähnelt.
Impressionen der Ausstellung
Alles dreht sich, alles bewegt sich
Während der Vorstellung sollten die Zuschauer auf spiralförmigen Rampen herumfahren, derweil die Schauspieler auf einer Plattform an der Spitze agierten. Darüber mokierte sich ein Karikaturist unter dem Motto “Alles dreht sich, alles bewegt sich.”
Kiesler focht das nicht an. Er war überzeugt, die Zukunft sei auf seiner Seite. Von ihm inszenierte Theatertechnik-Ausstellungen sorgten in Fachkreisen für Aufsehen, und zuweilen durfte er seine Ideen auch praktisch umsetzen – in kleinerem Maßstab. Etwa 1929 das “Film Guild Cinema” für einen US-Kinoverband: Hier ließ sich die Leinwand in jede Form von schlitzartig bis kreisrund einstellen – eine entbehrliche Neuerung.
Inhalte sind eher unwichtig
Seine Innovationen pries Kiesler im expressive-antibourgeoisen Jargon der Zeit an, doch im Grunde ging es ihm um etwas anderes: Das Theater sollte die Wahrnehmung genauso entgrenzen, wie es das Kino oder die pompösen Varieté-Bühnen der Epoche konnten. Er war ein früher Propagandist der Spektakel-Gesellschaft – Inhalte und Botschaften dessen, was auf der Bühne gegeben wurde, waren ihm eher unwichtig.
Deshalb war er in den USA, wohin er 1926 emigrierte und seinen Vornamen anglisierte, genau richtig. Dort ergatterte er 1933 den Posten des Ausstattungs-Direktors an der renommierten Julliard School of Music in New York und entwarf 24 Jahre lang Kostüme und Bühnenbilder für Aufführungen. Sie muteten anfangs surrealistisch, später eher existentialistisch an; Kiesler ging mit der Zeit.
Riesen-Repros neigen sich bedrohlich
Dennoch verblüfft bis heute seine Kühnheit: Er steckte die Schauspieler in meterhohe Pappmaché-Figuren, die wie Skizzen von Mirò und Cocteau aussahen, oder wuchtete bizarre-amorphe Konstruktionen auf die Bühne. Solches vom Stück ablenkendes Augenpulver wagt auch gegenwärtiges Regietheater nur selten.
All das wird von der Villa Stuck fabelhaft präsentiert. Über zwei Etagen läuft ein Ausstellungs-Parcours, der Besucher hinter jeder Ecke überrascht. Hier scheint es keinen rechten Winkel zu geben; riesenhaft vergrößerte Reproduktionen von Kieslers Kopfgeburten neigen sich bedrohlich auf den Betrachter herunter. Eine Inszenierung, die seine Überwältigungs-Ästhetik kongenial veranschaulicht.
Kiesler zeichnete schlecht
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Die Leidenschaften" - das Spektrum der menschlichen Affekte als «Drama in fünf Akten« im Deutschen Hygiene-Museum, Dresden
und hier eine Besprechung der Ausstellung "Carlo Mollino – Maniera moderna" - Retrospektive über den Architektur-Designer im Haus der Kunst, München
und hier einen Bericht über die Ausstellung "Cinema of the future - Kino der Zukunft " - Ausstellung über Kino-Architektur im Architekturforum Aedes, Berlin
Dabei fällt auf: Viele Entwürfe wirken vage und fahrig. Kiesler konnte offenbar nur schlecht zeichnen. Gern flüchtete er sich in Diagramme, die mit ihren Kreisformen wie astronomische Karten oder technische Baupläne aussehen – aber völlig offen lassen, wie das umzusetzen wäre.
Wie bei Buckminster Fuller
Zudem beschränkt sich die Ausstellung wohlweislich auf Kieslers Arbeiten zum Theater. Wenige Ausflüge in seinen “eigenwilligen Architektur-Kosmos” wirken teils haarsträubend. Etwa seine Pläne aus den 1950er Jahren für ein “Endless House”: Künftig sollten Menschen in einer Art Eier-Blasen leben, die als Modul-System beliebig verlängert werden sollte.
Solche Absonderlichkeiten erinnern an einen anderen großen Exzentriker des 20. Jahrhunderts, an R. Buckminster Fuller. Beide machten mehr durch hochfliegende Vorhaben und vollmundige Spekulationen als durch ausgeführte Projekte von sich reden. Und beiden gelang es, sich von ihren Zeitgenossen als multitalentierte Vordenker feiern zu lassen. Dass fast alle ihre Ideen mit ihnen starben, liegt in der Natur der Sache: Sie waren eben echte Visionäre.