„Cadavre exquis“ („Vorzüglicher Leichnam“) heißt ein Malspiel, bei dem jeder Mitspieler einen Teil des Körpers zeichnet, das Blatt faltet und weitergibt. An der Nahtstelle macht der Nächste weiter, ohne das ganze Bild zu kennen; am Ende ergeben sich bizarre Gestalten. Dieses Spiel war bei den Surrealisten als Methode zur absichtslosen Formfindung sehr beliebt.
Info
Der Stachel des Skorpions: Ein Cadavre exquis nach Luis Buñuels »L’Âge d’or«
28.03.2014 - 09.06.2014
täglich außer montags
11 bis 18 Uhr
im Museum Villa Stuck, Prinzregentenstraße 60, München
22.06. - 05.10.2014
täglich außer montags
11 bis 18 Uhr
im Platanenhain der Mathildenhöhe,
Olbrichweg 15, Darmstadt
Sechs Episoden wie Skorpion-Schwanz
Struktur und Inhalt gibt Buñuels Film vor, der mit Doku-Aufnahmen von Skorpionen beginnt und aus sechs Episoden besteht – wie die Glieder des Reptil-Schwanzes. Den Auftakt macht Tobias Zielony: Er filmte mit Schwarzlicht Teilnehmerinnen eines Workshops in Palästina, während sie tote oder betäubte Skorpione animierten und quasi mit dem Tod spielten – eine irrlichternde Dokumentation.
Im Videoclip der Kunst-Musik-Combo „Chicks on Speed“ sind die Farben regenbogenbunt bis grell. Befreite Frauen recken ihre Extremitäten in den Himmel über der Wüste, und ein sprechendes Känguru referiert gesellschaftskritische Betrachtungen.
Der Film "L'âge d'Or" von Luis Buñuel, OmeU (62 Min.)
Sodom + Gomorrha mit phallischem Zeppelin
M + M selbst drehten mit den Schauspielern Birgit Minichmayr und Christoph Luser ein kleines Schwarzweiß-Drama vor der Infrarotkamera; entsprechend wächsern sehen die Darsteller aus. Ein Liebespaar wird abgeführt, ein paar Beschimpfungen, ein paar Anrufungen, und wieder ist Nacht.
Bei Keren Cytter führt Kleinstadt-Langeweile in einer Bar zur Eskalation mit zwei Toten. Julian Rosefeldt schickt einen tumben Toren durch Sodom und Gomorrha. Die kaputte Kulissenstadt erinnert an Berlin: nackte alte Männer, ewig lockende Frauen vor hohlen Fassaden, und ein kleiner Zeppelin schwebt hübsch phallisch durch die Straßenflucht.
Obsessive Körpersäfte-Inszenierung
In einem Nachtclub beobachtet Rosefeldts Protagonist mit Faszination und Abscheu sexuelle Ausschweifungen – verschärftes „Cabaret“ in der Techno-Disco „Berghain“ als perfekt choreographierte 1920er-Jahre-Groteske in Schwarzweiß. Auch John Bock liefert einen Beitrag, eher eine Installation: Sein armer, alter und noch auf dem Totenbett geiler Marquis de Sade ist ein Maskenbildner-Artefakt aus Eiter, Krätze und Sperma.
Die anale Phase kehrt in der Kunst regelmäßig mit der obsessiven Inszenierung von Körpersäften wieder – wie auch in Matthew Barneys jüngstem, fünfstündigen Film „River of Fundament“, der Mitte März an der Bayerischen Staatsoper uraufgeführt wurde. Ein bisschen erinnert das an kleine Jungs, die demonstrativ in den Sandkasten pinkeln. Oder ist es immerwährender Ausdruck von Rebellion?
50 Jahre lang Aufführungs-Verbot
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Traum-Bilder - Die Wormland-Schenkung" - mit Werken des Surrealismus von Max Ernst, René Magritte, Salvador Dalí und anderen in der Pinakothek der Moderne, München
und hier eine Besprechung der schaurig-schönen Ausstellung “Schwarze Romantik: Von Goya bis Max Ernst” – mit Werken des Surrealismus im Städel, Frankfurt/Main
und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Meret Oppenheim – Retrospektive" - bislang größte deutsche Werkschau der surrealistischen Künstlerin im Martin-Gropius-Bau, Berlin.
„Das Goldene Zeitalter“ entstand 1929/30, auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise. Nachdem Rechtsextremisten bei einer Pariser Aufführung wüteten, wurde der Film verboten; bis 1981 stand er auf dem Index. Vor dem Hintergrund der Psychoanalyse war Buñuels Blick ins (Alp-)Traumhafte und Unbewusste damals revolutionär.
Stachel des Skorpion sticht nicht
Mehr als 80 Jahre später muss man sich jedoch fragen: Was bedeutet „bürgerliche Moral“ heute, und welche – eventuell bekämpfenswerten – Institutionen prägen die Werte-Ordnung unserer Gesellschaft? Man kann viele, auch konträre Antworten finden, doch man sollte zumindest diese Fragen stellen.
Vielleicht ist das der Grund, warum „Der Stachel des Skorpions“ nicht recht sticht: Der Adressat bleibt unklar, und die Attacke auf den guten Geschmack gerät zur Attitüde, es krankt an einem Mangel an Aussagekraft.
Faszinierend an den sechs Episoden ist ihre stilistische Vielfalt, doch anders als das Original bleiben sie mehrheitlich l’art pour l’art. Ein interessantes Experiment, das aber als Ganzes misslungen ist.