
So große Museums-Neubauten sind in jüngster Zeit selten geworden: Für rund 50 Millionen ließ der Landwirtschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) den Erweiterungstrakt des früheren Westfälischen Landesmuseums abreißen und durch eine Neukonstruktion ersetzen. Architekt Volker Staab modernisierte schon das Albertinum in Dresden und die Neue Galerie in Kassel; für Münster entwarf er ein zugespitztes Rechteck, das nahtlos an den Altbau anschließt, aber den Komplex völlig neu gestaltet.
Info
Das nackte Leben: Bacon, Freud, Hockney und andere - Malerei in London 1950–80
08.11.2014 - 22.02.2015
täglich außer montags
10 bis 18 Uhr
im LWL-Museum für Kunst und Kultur, Domplatz 10, Münster
Katalog 27 €
Neuanfang am Bestehenden
Symbolisch betrachtet ist das eine passende Wahl: Wie der LWL wagten junge englische Künstler in der Nachkriegszeit Neuanfänge, die an Bestehendes anknüpften. Und wie beim Neubau in Münster gilt für ihre Werke, dass sie vom hiesigen Publikum erst noch zu entdecken sind.
Feature mit diversen Statements + Impressionen der Ausstellung; © LWL Medien
Zentraler Stellenwert des Körpers
Britische Malerei war in Deutschland nie so präsent wie Künstler aus romanischen Ländern oder den USA – weder Altmeister wie Gainsborough, Constable oder William Turner noch ihre modernen Nachfolger. Selbst Weltstars wie Francis Bacon, Lucian Freud oder David Hockney wurden meist nur als Einzelpersönlichkeiten wahrgenommen. Aus einfachem Grund: Die meisten ihrer Werke sind in britischem Besitz und hierzulande selten zu sehen.
Das will diese Ausstellung ändern. Rund 120 Werke von 16 Künstlern machen auf ein wenig beachtetes Phänomen aufmerksam: den zentralen Stellenwert des Körpers in der englischen Malerei. Nach dem Krieg widmeten sich Künstler in Frankreich und Deutschland mit Tachismus und Informel der reinen Abstraktion. Amerikaner steigerten sie zum Abstrakten Expressionismus, bevor ab den 1960er Jahren Pop Art, Minimal und Konzeptkunst aufkamen.
Londons Bomben-Ruinen unerkennbar
Dagegen wurde in Großbritannien die Figuration nie aufgegeben. Obwohl dortige Künstler genauso gern experimentierten wie ihre kontinentalen Kollegen, behielten sie meist den Bezug zum Gegenständlichen bei. Sei es, weil sie den Krieg nicht als derart einschneidenden Epochenbruch empfanden, dass alles Bisherige entwertet und eine absolut neue Kunst nötig geworden wäre. Oder auch, weil das konservative Insel-Publikum total Abstraktes nicht goutierte – und die Kunstszene sich dem pragmatisch anpasste.
Nüchterner Pragmatismus prägt jedenfalls die beiden Bilder, mit denen die Ausstellung programmatisch anfängt. Gemälde von David Bomberg und William Coldstream, zwei Malern der älteren Generationen, bieten Stadtansichten von London 1944 bzw. 1946: perspektivisch korrekt in abgestuften Brauntönen. Man muss wissen, dass spitze Grate Häuserruinen und leere Flächen Bombentreffer andeuten – zu erkennen ist es nicht. Keine Spur vom depressiven Pathos, mit dem zeitgleich deutsche Maler verwüstete Städte pinselten.
Nacktbilder ohne Denunziation
Frühe Arbeiten von Lucian Freud, Enkel von Sigmund Freud, oder Frank Auerbach lassen ebenso jede Exaltiertheit vermissen. Freud porträtierte Frauen in Posen, die an die Neue Sachlichkeit erinnern: gefasst, distanziert, allenfalls etwas melancholisch. Später malte er Aktbilder mit schonungsloser Präzision, die Körper in allen Stadien vorführen, ohne seine Modelle je zu denunzieren.
Auerbach, gebürtiger Berliner jüdischer Herkunft, kam als Achtjähriger nach England. Er zeichnete und malte unermüdlich dieselben Personen und Ansichten, wobei er seine Bilder dutzendfach überarbeitete: Gesichter sind abgewandt in sich gekehrt, Figuren zerbröseln in schrundigen Farbflächen, Straßen und Häuser fließen ineinander – doch die Formen bleiben stets unterscheidbar.
Francis Bacon, wohl der bedeutendste britische Künstler des 20. Jahrhunderts, fand früh zu seinem unverkennbaren Stil: verdrehte Körper mit deformiertem Antlitz in klaustrophobisch kahlen Räumen. Allein wegen der zehn hier versammelten Werke lohnt ein Besuch: Beim Vergleich wird deutlich, wie viele Nuancen Bacon mit seinen Mutanten auszudrücken vermochte. Manche verströmen rohe Energie, andere wirken wie von Dämonen gequält. Oder wie Studien in expressivem Kubismus: mit etlichen Gefühlsregungen gleichzeitig.
Selbstporträt als Wackelbild
Auf den ersten Blick konventioneller erscheinen die tableaux von Michael Andrews: Er malte bevorzugt Gruppenporträts, in denen die Akteure allerdings seltsam vereinzelt auftreten. Im sechs Meter langen Triptychon „Good and Bad at Games“ (1964/68) erscheinen sie als Schemen vor der Kulisse eines Luxushotels bei Nacht: erst vollständig, dann in verschiedenen Stadien der Auflösung – ein sarkastischer Kommentar zu Abendgesellschaften, die aus dem Ruder laufen.
Zu dieser Zeit hatte sich eine britische Variante der Pop Art herausgebildet – zu der sich allerdings keiner ihrer Vertreter rückhaltlos bekennen wollte. Ihr Nestor Richard Hamilton wechselte häufig die Technik: Er schmähte einen Labour Party-Politiker als Masken-Monster, schuf ironische Collagen und sogar ein Selbstporträt als Wackelbild („Palindrome“, 1974).
Motiv aus Urschlamm herausmodelliert
Der 15 Jahre jüngere David Hockney wurde in den 1970ern mit sonnigen Kalifornien-Sujets, etwa drahtigen Jünglingen im swimming pool, zum Postervorlagen-Lieferanten. Hier ist vor allem sein Frühwerk zu sehen: erratische Gestalten in unklaren Situationen vor blankem Hintergrund. Sein Freund R.B. Kitaj kultivierte ebenso eine mehrdeutige Bildsprache: Da tummelt sich vielköpfiges Personal in Konstellationen, die zahlreiche Anspielungen auf Kunst- und Geistgeschichte enthalten.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "David Hockney: A bigger Picture" - Retrospektive im Museum Ludwig, Köln
und hier eine Besprechung der Ausstellung "Ludwig goes Pop" - mit Werken von Richard Hamilton im Museum Ludwig, Köln
und hier einen Bericht über die Ausstellung "R.B. Kitaj (1932 – 2007) Obsessionen" - Werkschau im Jüdischen Museum Berlin + Hamburger Kunsthalle
Illusionslos ohne verstiegene Theorien
Was verband diese Künstler außer ihrem Wohnort? Zunächst nur, dass Kitaj 1976 für eine Ausstellung in der Hayward Gallery den Begriff „School of London“ prägte. Damit erhielt diese figürliche Malweise ein griffiges label, deren wichtigste Vertreter längst international einflussreich waren: in Deutschland etwa auf Künstler wie Georg Baselitz, Anselm Kiefer und Jörg Immendorff.
Von Schubladen abgesehen, wird in dieser Schau aber auch ein spezifischer spirit deutlich: konsequente Orientierung an sichtbarer Wirklichkeit, Aufmerksamkeit für das Alltägliche, nie erlahmendes Interesse am menschlichen Dasein – eben „das nackte Leben“. Es war eine illusionslose Kunst ohne verstiegene Theorien, die drei Jahrzehnte lang in London entstand – bis der hype um Young British Artists und den Turner Prize sie nach 1980 zum show business degenerieren ließ.