Stuttgart

Giorgio de Chirico – Magie der Moderne

Giorgio de Chirico: Metaphysisches Interieur mit großer Fabrik (Detail), 1916, 96,3 x 73,8 cm, Staatsgalerie Stuttgart, (c) VG Bild-Kunst, Bonn 2015. Fotoquelle: Staatsgalerie Stuttgart
Der große Melancholiker: Mit seiner "metaphysischen Malerei" hat der Einzelgänger De Chirico den Surrealismus vorbereitet und die Moderne auf einzigartige Weise geprägt. Das führt die Staatsgalerie anschaulich vor – allerdings beschränkt auf sein Frühwerk.

Kunst ordnet Chaos der Wirklichkeit

 

Solche Bühnen-Prospekte bestückte De Chirico zunehmend mit erratischen Elementen: antike Büsten und Statuen, Gliederpuppen (manichini) und alltäglichen Utensilien. In Ferrara schuf er vor allem interieurs voller Handwerks-Zubehör wie Winkelmaße, Holzleisten und geometrische Körper – ergänzt um Kleinkram wie Gebäckstücke und Naschwerk, aber auch Landkarten. Derlei fügte er oft gesondert ein: Im kleinformatigen „Bild im Bild“ geht es überschaubar zu, drumherum herrscht unübersichtliches Tohuwabohu.

 

So etwa beim Stuttgarter „Metaphysischen Interieur mit großer Fabrik“: Letztere ist als Bild im Bild realistisch dargestellt – De Chirico hatte einfach eine Werbe-Postkarte abgemalt. Um sie herum verteilt er auf mehreren Ebenen ein ensemble von Gegenständen, die klar erkennbar, doch kaum verständlich sind. Ein derartiges Rebus macht deutlich: Die so genannte Wirklichkeit ist ein Chaos; vermeintliche Ordnung schafft nur die künstlerische Darstellung.

 

Gliederpuppen der conditio humana

 

De Chirico sprach vom „großen Wahnsinn hinter dem unerbittlichen Paravent der Materie“. Eine zutiefst tragische Weltsicht, in der alle Erscheinungen nur ihre Kontingenz und Vergänglichkeit anzeigen; das ist das „Metaphysische“ an dieser Malerei. Die figurativen Objekte stehen nicht für sich; sie sind nur Platzhalter für Gedanken und Stimmungen, die durch Wechselbeziehungen erzeugt werden, welche der Künstler arrangiert.

 

Etwa die allgegenwärtigen Gliederpuppen: Sie stellen keine Personen dar, sondern Menschen an sich, quasi die conditio humana. Wie in „Hektor und Andromache“ von 1917: Trotz maximaler Stilisierung sind beide Gestalten erkennbar, die voneinander Abschied nehmen – in einer zeitlos allgemeingültigen Szene. Oder „Die beunruhigenden Musen“ von 1918, ein weiteres Hauptwerk: Zwei Figurinen nebst einer Statue erlauben diverse Deutungen, welche Eigenschaften und Fähigkeiten sie repräsentieren – sehr verunsichernd und beunruhigend.

 

Alle kupfern bei De Chirico ab

 

Auf diese Weise löste De Chirico Dinge und Figuren aus ihrem Kontext und machte sie frei verfügbar. Mit dieser Revolution des Bild-Inhalts, nicht der Formen, wurde er zu einem Mitbegründer des Surrealismus. Und das sehr schnell: Prägnant führt die Ausstellung vor, wie ganz unterschiedliche Künstler – von Carlo Carrà über Max Ernst, René Magritte und Salvador Dalì bis zu George Grosz, Oskar Schlemmer und Alexander Kanoldt – De Chiricos Kunstgriffe aufnahmen.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung “Blickwechsel: Pioniere der Moderne” – mit Werken von Giorgio de Chirico in der Neuen Pinakothek, München

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "1914 – Die Avantgarden im Kampf" – mit Werken von Giorgio de Chirico in der Bundeskunsthalle, Bonn.

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung “Traum-Bilder – Die Wormland-Schenkung” – mit Werken des Surrealismus von Max Ernst, René Magritte, Salvador Dalí und anderen in der Pinakothek der Moderne, München.

 

In den 1920/30er Jahren wimmelte es in der europäischen Malerei vor abstrahierten, spartanisch ausgestatteten Landschaften, die von gesichtslosen Schemen in seltsamen Posen bevölkert wurden. Ebenso erfolgreich wurde das Bild-im-Bild-Prinzip: De Chirico hatte eine unschlagbare Formel gefunden, um das Illusionäre aller Wahrnehmung auf der Leinwand selbst vor Augen zu führen.

 

Selbst-Fälschung verspielt renommée

 

Trotz Hochschätzung durch die Surrealisten wandte sich De Chirico derweil einer eher konventionell akademischen Malweise zu. Sie nahm ab den späten 1930er Jahren geradezu barocke Züge an. Da er damit wenig Anklang fand, begann er, sein mittlerweile kanonisches Frühwerk der 1910er Jahre zu kopieren und rückdatiert zu verkaufen – eine Selbst-Fälschung, die ihn viel renommée kostete.

 

Im Kunstbetrieb fiel er dadurch in Ungnade; was er nach 1920 schuf, wird bis heute meist ignoriert. Diesem unausgesprochenen Boykott schließt sich auch diese Ausstellung an.

 

Bis zur Spätwerk-Retrospektive 2044

 

Das ist schade: Ein paar ausgewählte Beispiele aus dem späteren Œuvre würde die Innovationskraft seiner ersten Phase vor und in Ferrara umso leuchtender strahlend lassen. Auf eine Retrospektive seines Spätwerks muss man wohl bis 2044 warten: Dann jährt sich zum 100. Mal sein Umzug an seinen letzten Wohnsitz in Rom.