documenta 14

documenta 14 – Wang Bing

Szenenbild aus "Three Sisters" von Wang Bing aus der Aufführung auf der documenta 14. Foto: ohe
Ein Riesenreich, das keiner kennt: Der Filmemacher Wang Bing hält die Schattenseiten von Chinas Wirtschaftsboom fest – Armut, Ausbeutung und Verfall. Seine brillant subtilen Dokus sind ein Höhepunkt der documenta – und werden leider miserabel präsentiert.

Zu den zahlreichen Unzulänglichkeiten der documenta 14 zählt ihre miserable Präsentation: Die dilettantische website sieht aus, als hätten sie hacker um etwa 1992 programmiert. An vielen Ausstellungsorten hängen immer noch Werktitel auf hastig kopierten Zetteln an den Wänden, weil für Besseres offenbar das Geld fehlt. Und echte Perlen im Programm werden kaum oder gar nicht beworben – aus Ignoranz oder Desinteresse?

 

Info

 

documenta 14 - Wang Bing

 

Teil 1:
08.04.2017 - 16.07.2017

täglich außer montags

11 bis 21 Uhr, donnerstags bis 23 Uhr

an 47 Standorten in Athen

 

Weitere Informationen

 

Teil 2:
10.06.2017 - 17.09.2017

täglich 10 bis 20 Uhr

an 35 Standorten in Kassel

Katalog ("Daybook") 25 €,
Essayband ("Reader") 35 €

 

Website zur documenta 14

 

So auch die Retrospektive von Wang Bing: Im Gloria-Kino läuft 100 Tage lang nahezu das Gesamtwerk des chinesischen Dokumentarfilmers; täglich zwei oder drei seiner Filme. Doch mangels marketing – es gibt nur den Wochen-Spielplan auf Postkarte, ansonsten keinerlei Erläuterungen zum Regisseur oder Inhalten – nahezu unter Ausschluss der Öffentlichkeit: Selten verliert sich mehr als ein Dutzend Zuschauer im weiten Saal. Kaum ein Kulturtourist verbringt während seiner ein oder zwei Besuchstage mehrere Stunden im Kino.

 

150 Millionen leben von 1 Dollar täglich

 

Denn sie wissen nicht, was ihnen entgeht: Wang Bing ist einer der besten und bedeutendsten Filmemacher im heutigen China. Allerdings sind seine Arbeiten meist nur auf Festivals zu sehen; fürs reguläre Programm erscheinen sie zu spröde. Darin dokumentiert Wang ein im Westen praktisch unbekanntes Ostasien: die Landesteile abseits der Sonderwirtschaftszonen, die an Chinas ökonomischem Aufschwung kaum teilhaben. Also die Heimat von rund 500 Millionen Menschen mit einer Kaufkraft von höchstens 1000 Dollar im Jahr. 150 Millionen müssen mit einem Dollar oder weniger am Tag auskommen; unter ähnlich widrigen Umständen leben auch 100 bis 200 Millionen Wanderarbeiter.

Impressionen des Films "Three Sisters" (2012) von Wang Bing


 

Zehn Jahre Zwangspause in Chinas Ruhrgebiet

 

Dem größten aller Modernisierungsverlierer widmete Wang 2003 seinen Debütfilm: „Tie Xi Qu: West of the Tracks“ über das gleichnamige Industrierevier im Nordosten rund um die Stadt Shenyang, quasi Chinas Ruhrgebiet. Ab 1934 produzierten hier mehr als 100 Fabriken erst Rüstungsgüter für japanische Besatzer, später Zivilbedarf für die Volksrepublik – in den 1950er Jahren oft auf ehemals deutschen Anlagen, die zuvor von der sowjetischen Armee in der SBZ demontiert und dem damaligen Verbündeten Rotchina überlassen worden waren. Seit der Jahrtausendwende werden die unrentablen Betriebe sukzessive stillgelegt; doch es fehlen Konversions-Projekte, um Entlassene anderweitig zu beschäftigen.

 

Den unaufhaltsamen Niedergang der Region hat Wang jahrelang auf Video festgehalten; daraus montierte er die monumentale Trilogie „Rust – Remnants – Rails“ („Rost – Überbleibsel – Schienen“). Sie zeigt neun Stunden lang in grobkörnigen Bildern, unter welchen Bedingungen Menschen ausharren müssen: Produktionsstätten sind gefährlich veraltet, Plattenbauten zerbröckeln, die Versorgung ist schlecht, viele schlagen sich irgendwie durch. Mit zuweilen grausiger Komik: Bei der Neujahrs-Lotterie gewinnt ein Arbeitsloser den Hauptpreis. Auf der windschiefen Freiluftbühne fragt ihn der Moderator, seit wann er sich „eine Pause gönne“. Seit zehn Jahren sitze er untätig zuhause, antwortet der Mann.

 

Expeditionen in Exotik des Gewöhnlichen

 

Solche Szenen machen deutlich, welch bittere Armut immer noch in weiten Teilen Chinas herrscht. Dennoch sind Wangs Filme keineswegs triste Elends-Reportagen. Mit exzellentem Gespür für timing schneidet er relativ lange Einstellungen so aneinander, dass sie auf den Betrachter eine Sogwirkung entfalten. Er wird rasch ins Dasein der Akteure hineingezogen und empfindet bald Empathie für sie – trotz kultureller Barrieren, die höher kaum sein könnten. Selten wirkte die Lebenswelt von Arbeitern und Bauern auf der Leinwand so authentisch.

 

Wang Bing nutzt Film für Expeditionen in die Exotik des Gewöhnlichen, etwa in „Three Sisters“ von 2012. Drei Mädchen im Vorschulalter wohnen mit ihrem Vater in einem Dorf im südchinesischen Yunnan. Das Bergland ist karg, die Erträge der Terrassenfelder mager, alle Dörfler halten Ziegen und Schafe. Da der Vater nicht alle drei Töchter zugleich ernähren kann, wandert er mit den beiden jüngeren in die Stadt ab und gibt die zehnjährige Yingying in die Obhut von Verwandten. Die Kamera begleitet sie einfach durch ihren Tagesablauf.

 

Kino-Hölle für Hieronymus Bosch

 

Schon der Schulbesuch wird zur Kette surrealer Eindrücke. Vor dem Eingang verhökern Frauen Süßes und Tinnef aus Plastiksäcken, im schmutzig kahlen Klassenraum wiederholen die Kinder stehend Merksätze, der Lehrer scheint nur wenig mehr zu wissen als seine Schützlinge. Sie müssen später auf Berghängen Fichtenzapfen und Dung als Brennmaterial sammeln und zu Tal tragen. Als Mahlzeit brät sich Yingying eine Kartoffel und isst sie aus der Hand – eine.

 

In ihrem archaischen Dasein zeugen nur abgetragene Kunstfaser-Klamotten von der Moderne. An ihr sind die LKW-Fahrer in „Coal Money“ von 2009 etwas näher dran – aber nur an ihren Übeln. Sie transportieren unentwegt Kohleberge von den Fördergruben zu Lagerstätten und Güterwaggons. Ein kaum durchschaubares Hin und Her in einer Hölle aus Staub, Abgasen, Motorenlärm und Geschrei – käme Hieronymus Bosch vorbei, fände er reichlich Inspiration. Dabei ereignet sich ein kleines Kino-Wunder: Dieses rabenschwarze Schauspiel fesselt mehr als jeder thriller.

 

Armut und Elend im Kontext

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der "documenta 14" - Überblick über die weltgrößte Gegenwartskunst- Ausstellung 2017 in Kassel

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Die 8 der Wege: Kunst in Beijing" - exzellenter Überblick über Gegenwartskunst in China in den Uferhallen, Berlin

 

und hier einen Beitrag über Film "A Touch of Sin" – schonungsloses Sozialdrama über Ausbeutung + Gewalt im heutigen China von Jia Zhangke

 

und hier einen Bericht über den Film "Vier Leben" - brillante Direct-Cinema-Doku von Michelangelo Frammartino über ein Dorf in Kalabrien.

 

Nichts sei so aufregend wie die Wirklichkeit, meinte der Star-Reporter Egon Erwin Kisch; seine Maxime setzt Wang Bing mit schmuckloser Virtuosität um. In bester direct cinema-Manier zeigt er kommentarlos alltägliche Sachverhalte, die überall vorkommen – und setzt daraus, Szene für Szene, einen faszinierend fremdartigen Kosmos zusammen. Weil er sich nicht auf Schlüsselreize von Armut und Elend beschränkt, die massenmedial längst abgenutzt sind, sondern sie in ihrem Kontext vorführt – plötzlich gewähren sie weiterführende und nachvollziehbare Einsichten.

 

So gelingt Wang in „The Ditch“ („Der Graben“, 2010), die menschenunwürdige Behandlung von Insassen maoistischer Umerziehungslager anhand halb verwitterter Überreste um 1960 vor Augen zu führen. Oder 2016 in „Ta’ang“ ein kleines Nomaden-Volk zu porträtieren, dass in der Grenzregion von China und Myanmar ständig auf der Flucht vor Verfolgung ist. Vorab habe er vergeblich nach Informationen über diese Ethnie gesucht, berichtet der Regisseur: Sein Drei-Mann-team filmte sie zum allerersten Mal in ihrer schwer zugänglichen Lebenswelt.

 

Blick auf wirkmächtige Wesenszüge

 

Dieser low profile approach trägt sicher dazu bei, dass Wang solche Entdeckungen bietet: An minimale Ausstattung gewöhnen sich die Protagonisten rasch, was ihm „teilnehmende Beobachtung“ im Sinne des Ethnologen Clifford Geertz ermöglicht. Dabei zeichnen sich seine Filme durch subtile Dramaturgie und Spannungsbögen aus. Dennoch begreift sich der Regisseur wohl kaum als Künstler im landläufigen Sinne.

 

Er will eher der Illusionsmaschine Kino, die inzwischen auch in China mit Milliardenbudgets inszeniert wird, den nüchternen Blick auf eine unspektakuläre, aber umso wirkmächtigere Realität entgegensetzen. Und enthüllt dabei Schattenseiten einer künftigen Supermacht, die der Medienbetrieb meist ausblendet: Allein das ist Grund genug, ihn zur documenta zu holen. Würde sie bloß dafür sorgen, dass sein epochales Werk auch gebührend wahrgenommen wird!