
Die Welt ist alles, was der Fall ist: Wohl kein anderer zeitgenössischer deutscher Fotokünstler hat ein derart weites Motivspektrum wie Thomas Struth. Und kaum ein anderer ist derart populär; auch wegen seiner Riesenformate. Sie bringen Dinge zur Anschauung, die zuvor in dieser Form nicht erlebbar waren – und befriedigen so die Schaulust des Publikums.
Info
Thomas Struth:
Figure Ground
05.05.2017 - 07.01.2018
täglich 10 bis 20 Uhr,
donnerstags bis 22 Uhr
im Haus der Kunst, Prinzregentenstraße 1, München
Katalog 49,80 €
Der ganze Struth seit Studientagen
Das führt die bislang größte ihm gewidmete Retrospektive im Haus der Kunst anschaulich vor: anhand von rund 130 Fotografien, zwei Mehrkanal-Videoinstallationen und viel Archivmaterial. Während bisherige Werkschauen, etwa 2010 in Zürich und Düsseldorf oder 2016 in Essen und Berlin, sich auf einzelne Bilderserien konzentrierten, ist hier der gesamte Struth zu sehen – angefangen mit frühen Skizzen und Schnappschüssen aus Studententagen.
Impressionen der Ausstellung
Straßenzüge zum Aufklappen
In lose chronologischer Hängung, die mit seinem ersten umfangreichen Werkkomplex „Unbewusste Orte“ beginnt. Schwarzweißfotos aus den späten 1970er und frühen 1980er Jahren zeigen Stadtansichten: meist menschenleer und stets zentralperspektivisch. Diese Straßenzüge wirken wie aufgeklappt, so dass man die Häuserzeilen miteinander vergleichen kann.
Ob zweckmäßig-nüchterne Nachkriegs-Architektur an Rhein und Ruhr, in Belgien oder Schottland: Trotz unübersehbarer tristesse springen die Eigenheiten lokaler Baustile ins Auge. Dagegen wirken Bürotürme und Wohnsilos in New York, Japan oder Südkorea gespenstisch eintönig: auf allen Kontinenten die gleiche Monotonie gerasterter Betonfassaden.
Betrachtung der Kunstbetrachter
Solche bemerkenswerten Ähnlichkeiten spürt Struth auch in seinen „Museumsbildern“ auf, seiner vermutlich bekanntesten Werkgruppe. Anfangs lichtet er noch Besucher ab, die vor berühmten Meisterwerken verweilen. Später lässt er die Kunstwerke weg und nimmt allein die Menge der Betrachter auf, etwa die vor Michelangelos „David“ in der Galeria dell‘ Academia in Florenz.
Vier nebeneinander stehende Aufnahmen bilden einen monumentalen Fries. Alle vier sind voller Leute; was ihre Aufmerksamkeit fesselt, bleibt unsichtbar. Doch sie führen alle Erscheinungsformen der Spezies Kulturtourist vor: in der globalen Einheitskluft der Freizeitgesellschaft aus T-Shirts, Shorts, Sportschuhen und Sandalen. Sie staunen, plaudern oder langweilen sich, nesteln an ihren Audioguides oder halten sich an ihren Kameras fest.
Bebauung spiegelt politische Zerklüftung
Dieses Erscheinungsbild bleibt gleich, auch wenn die Schauplätze der Hochkultur wechseln – ob im Berliner Pergamon-Museum, der National Gallery in London oder dem Art Institute of Chicago. Doch Struth bedient keineswegs wohlfeile Kulturkritik. Er will vielmehr die Komplexität unserer Umwelt sichtbar machen – auch und gerade dort, wo sie sich ohne Deutungszwang selbst genügt. Das zeigt seine „Paradise“-Serie von Urwäldern rund um den Planeten: ein undurchdringliches Dickicht pflanzlicher Details, in denen sich der Blick verliert.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Don't blink - Robert Frank" – Porträt des US-amerikanischen Dokumentar-Fotografen von Laura Israel
und hier eine Besprechung der Ausstellung "Elger Esser – zeitigen" – große Retrospektive des deutschen Landschafts-Fotografen in der Staatlichen Kunsthalle, Karlsruhe
und hier eine Beitrag über die Ausstellung "Jeff Wall in München" – Werkschau des mit Leuchtkästen arbeitenden Foto-Künstlers in der Pinakothek der Moderne, München
und hier einen Bericht über die Ausstellung "Richard Avedon – Wandbilder und Porträts" – Werkschau des US-Fotografen im Museum Brandhorst, München.
Blumen-Bilder für Klinik-Patienten
Manchmal driftet Struths Methode, das Vorhandene kommentarlos zu registrieren, ins Belanglose ab. Etwa im „Löwenzahnzimmer“: Diese Aufnahmen von Feldern, Bäumen, Wiesen und Gartenblumen sind so gefällig fad wie Kalenderblätter – allenfalls geeignet, Patienten in einer Klinik zu beruhigen, wofür sie auch entstanden. Oder beim „Berlin-Projekt“, das er 1997 mit Klaus vom Bruch anging: Gefilmte Alltagsszenen aus diversen Kulturkreisen, simultan projiziert, verdoppeln nur die sinnfreie Reizüberflutung des Youtube-Zeitalters.
Doch knöpft sich Struth die richtigen Motive vor, schließt er dem Publikum ganz neue Welten auf. So bei seiner Serie über Hochtechnologie-Standorte, die unter Ausschluss der Öffentlichkeit arbeiten: von einer Bohrinsel-Werft in Südkorea über die Wartungshalle des Space Shuttle in Cap Canaveral bis zum Kabelgewirr des „Tokamak Asdex Upgrade“ des Max-Planck-Forschungsinstituts in Garching.
Schauer der Angstlust
Solche Apparate und Strukturen sind für Außenstehende so undurchschaubar und verwirrend wie der Anblick von Lianen und Wurzelwerk im Dschungel: eine geheimnisvolle Sphäre der Technik, die unser Leben bestimmt, ohne dass wir sie kennten. Da agiert Struth wie ein Pionier, der von seinen Expeditionen Bilder mitbringt, die jedem Daheimgebliebenen Schauer der Angstlust einjagen.