Einfach losgehen, den Rucksack schultern und alles hinter sich lassen: Wandern boomt. Eine Gesellschaft, deren Arbeitsleben und Freizeit sich immer mehr in abstrakt-digitalen Computerwelten abspielt, sehnt sich offenbar nach konkreter Naturerfahrung. Schon um 1800 packte die Künstler die Wanderlust als Flucht vor Verstädterung und Umweltzerstörung durch die aufkommende Industrialisierung.
Info
Wanderlust -
Von Caspar David Friedrich bis Renoir
10.05.2018 - 16.09.2018
tägich außer montags
10 bis 18 Uhr,
donnerstags bis 20 Uhr
in der Alten Nationalgalerie, Bodestraße, Berlin
Katalog 29 €
Moderner Romantiker
Manche Besucher kommen schon beim Zustieg auf Treppen über drei Etagen außer Atem. Im Obergeschoss reiht sich die Schau um den hier gelegenen Saal für Caspar David Friedrich. Der Dresdener Romantiker darf diesmal mit seinen Meisterwerken wie dem Strandspaziergänger „Mönch am Meer“ als Gewährsmann der Wanderlust herhalten. Tatsächlich hat sich der Künstler sein bis heute überraschend modern wirkendes Motivspektrum zu Fuß angeeignet.
Impressionen der Ausstellung
Wandern in Versatzstücken
Er durchmaß das Riesengebirge, erkundete die sächsische und die böhmische Schweiz sowie die Ostseeküste. Mit leichtem Wandergepäck zeigt ihn eine Zeichnung zusammen mit einem Künstlerkollegen 1811, just im Aufbruch zu einer 300-Kilometer-Tour in den Harz. Topographische Genauigkeit aber darf man bei C.D. Friedrich allerdings nicht erwarten. Seine imponierenden Landschaften sind perfekte Inszenierungen aus Versatzstücken – mit zukunftsweisendem Hang zum fast abstrakten Farbraum.
Andere Künstler lockte es schon um 1775 zu ersten abenteuerlichen Eskapaden. Sie schnürten ihre Schuhe oft im Gefolge von Wissenschaftlern, die sich für Geologie, Biologie oder Mineralogie unerforschter Regionen interessierten. Auf dem Rhonegletscher packte der Zürcher Maler Heinrich Wüest sein Zeichenbrett aus. Der von Goethe geschätzte Jakob Philipp Hackert wagte sich 1774 beim Vesuvausbruch als Augenzeuge vor. Die Neugier der Daheimgebliebenen auf derartige Naturschauspiele sicherten wandernden Malern die Absatzmärkte.
Der Berg ruft
Mit effektvoll-präziser Lichtschattenführung brillierten die einen, andere – wie der Expressionist Ernst Ludwig Kirchner – steigerten die Farben ins Irreale. Nur selten aber springt das schwindelerregende Gefühl des Bergsteigens tatsächlich aus dem Bild über: Etwa wenn der flott empor klimmende „Berggänger“ von Karl Heinrich Gernler 1876 waghalsig auf abschüssigen Felszacken seine Trittsicherheit demonstriert.
Im Wandern erkennen die Ausstellungsmacher letztlich sogar eine Triebfeder für die Entwicklung der modernen Landschaftsmalerei. Indem sich die Künstler selbstbestimmt und auf eigene Faust in wilde oder idyllische Regionen aufmachten, lösten sie sich von den klassischen Vorbildern der idealisierten Landschaftsmalerei. Subjektives Erleben eröffnete den Weg zu neuen Darstellungsstrategien. Aber Wanderbilder haben oft auch tiefere, sinnbildhafte Bedeutungsschichten.
Tiefgründiges Pilgern
Wenn Ferdinand Hodler einen greisen Wandersmann todmüde zusammengesunken dahocken lässt, ist das Ende der sprichwörtlichen Lebensreise mit angesprochen. Ein ganzer Themenraum widmet sich diesem symbolischen Tiefgang. Hier haben bedeutungsschwere Pilger, wandernde Mönche, aber auch Bootspassagiere bei der Überfahrt in unbekanntes Terrain ihren Auftritt. Emil Noldes sturmgebeutelten Winterwanderer möchte man nicht beim anstrengenden Stapfen durch den eisigen Tiefschnee begleiten.
Solche Arbeiten der klassischen Moderne streuen Überraschungsmomente in den Parcours, der sich aufs 19. Jahrhundert konzentriert. Doch irgendwann stellen sich Ermüdungserscheinungen ein. Die Motive des Rastens, Emporsteigens und Ausschauhaltens wiederholen sich, die vielen effektvoll erfassten Naturkulissen verlieren an Schauwert. Oder liegt es an mangelnder eigener Kondition?
Selbstverständnis des modernen Künstlers
Vor einem berühmten Spitzenwerk von Gustave Courbet lässt sich verweilen: Aus Montpellier angereist, reckt der Realist 1854 herausfordernd seinen Kinnbart. In fast anmaßend stolzer Haltung tritt der Maler auf staubiger Straße seinem Mäzen entgegen. Der Millionär Alfred Bryas zieht ehrerbietig den Hut. Der Künstler strotzt, trotz abgetragener Arbeitsklamotten, vor Selbstbewusstsein. Die soziale Hierarchie kehrt er kurzerhand um. Im Rollenmodell des Wanderers, der sich aus den Zwängen der bürgerlichen Gesellschaft freiwillig entfernt, formulierte Courbet hier programmatisch das Selbstverständnis der modernen Künstlerexistenz.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Es drängt sich alles zur Landschaft…" über "Landschaftsbilder des 19. Jahrhunderts" im Museum für bildende Künste, Leipzig
und hier eine Besprechung der Ausstellung "Alpenglühen: Die Berglandschaft als Sehnsuchtsort" in der Malerei des 19. Jh. im Schlossmuseum Murnau
und hier einen Bericht über die Ausstellung "Der Rhein – Ritterburgen mit Eisenbahnanschluss" über die Entstehung der Rhein-Romantik im Museum für Kunst und Technik des 19. Jahrhunderts, Baden-Baden.
Weiblicher Gipfelsturm
Erst bei den Impressionisten lockern sich die Konventionen – nicht nur im skizzenhaft offenem Pinselschwung. Renoir lässt Frau und Kind jenseits befestigter Parkwege durch langes Wiesengras streifen. Im korsettfreien Reformkleid genießt die schlanke Protagonistin auf Richard Riemerschmids Gemälde „In freier Natur“ 1895 die Sonne auf einer abschüssigen Wildblumenwiese.
Edith Willumsen gab sich mit solchen zaghaften Abenteuern nicht zufrieden. Die Ehefrau des dänischen Modernisten Jens Ferdinand Willumsen zeigt sich als souveräne Bergsteigerin bei der Gipfelrast im Hochgebirge, lässig auf ihren langen Wanderstock gestützt. Sie blickt symbolträchtig der Sonne entgegen. Ihre selbstbewusste Ausstrahlung ist auch Ausdruck eines gesellschaftlichen Aufbruchs: Drei Jahre später führte Dänemark als eines der ersten Länder das Frauenwahlrecht ein.