
Schadows berühmtestes Werk bleibt unangetastet: Die Quadriga auf dem Brandenburger Tor wird in dieser Ausstellung nur am Rande erwähnt. Dagegen steht in der Sonderschau für den Begründer der Berliner Bildhauerschule des 19. Jahrhunderts seine bis heute beliebteste Skulptur im Mittelpunkt – das lebensgroße Doppelstandbild der preußischen Prinzessinnen Luise und Friederike.
Info
Johann Gottfried Schadow -
Berührende Formen
21.10.2023 - 19.02.2023
täglich außer montags
10 bis 18 Uhr
in der Alten Nationalgalerie,
Bodestr. 1-3, Berlin
Katalog 39,90 €
Spiegelkabinett für Prinzessinnen
In der eigentlichen Ausstellung im Obergeschoss steht nun die kostbare Marmorversion der Prinzessinnengruppe im Schinkelsaal zwischen zwei riesigen Spiegelwänden. Die Skulptur teilt sich den Raum mit einer gleich großen Gipsfassung, die als Vorlage für die später ausgeführte Marmorvariante diente. Die Spiegel erleichtern die vergleichende Betrachtung von allen Seiten; man sieht die beiden Figuren unendlich oft vervielfältigt – ein Hinweis darauf, wie häufig sie reproduziert worden sind.
Feature zur Ausstellung; © Freunde der Nationalgalerie
Von Terrakotta zu Gips zu Marmor
In einer Ecke des Saals stehen Büsten der Prinzessinnen aus Ton, Gips und Pappmaché. In einer Ecke anderen liegt der Vertrag aus, den der Hofbildhauer Schadow mit einem Kollegen schloss, damit dieser die Gipsfassung der Skulptur in Marmor übertrug. Die endgültige Ausarbeitung vor allem der Gesichter und der Mädchenarme behielt sich Schadow persönlich vor.
Was ist nun das eigentliche Werk; was ist Original, was Kopie? Eine klare Antwort auf diese Frage gibt es nicht. Am Anfang hatte Schadow zwei Terrakottabüsten der Mädchenköpfe modelliert, zur Vorbereitung der Gipsfigur. Diese entstand 1795 und wurde auf der Berliner Kunstausstellung in der Akademie der Künste gezeigt, also als fertiges Werk präsentiert – sie war damals eine Sensation. Zwei Jahre später stellte Schadow dann die Marmorfassung aus, die der König in Auftrag gegeben hatte. Ob die Prinzessinnen selbst jemals in der lässig vertrauten Pose Modell gestanden haben, ist fraglich.
Antike Kinnbinde als Mode-Accessoire
Spieglein, Spieglein an der Wand: Welche ist nun die schönste Prinzessin im ganzen Land? Der steinharte, aber glatt polierte und leicht transparente Marmor wirkt wie ein Weichzeichner. Die Gipsfiguren sind nicht weniger anmutig, trotz oder wegen ihrer rauen Oberfläche. Sie wirken nahbarer, man sieht Spuren von Arbeit und Alterung des Materials. Das macht die Figuren noch berührender. Denn Gips ist fast so vergänglich wie ein Mensch. Da man ihn nicht feucht abputzen sollte, wurde er früher gern übermalt, um ihn heller erscheinen zu lassen. Bei der Restaurierung dieser Plastik wurden bis zu sieben Farbschichten entfernt.
Mit seiner Prinzessinnengruppe schrieb Schadow Kunstgeschichte: Sie gilt als erstes skulpturales Doppelporträt historischer Persönlichkeiten – aber es gab Vorbilder. Von 1785 bis 1787 studierte der junge Bildhauer in Rom; er kannte also Darstellungen der Zwillinge Castor und Pollux aus der Antike. Ausgestellt sind ebenso Skulpturen von Frauenpaaren, die sich ähnlich umarmen wie die preußischen Prinzessinnen. Schadow zitiert diese Vorbilder verblüffend genau. Auch die Kinnbinde der Kronprinzessin Luise findet sich bereits bei einer antiken „Zingerelle“ aus der Villa Borghese: Der Stoffwickel sollte eine Schwellung am Hals verdecken. Um 1800 wurde dieses Tuch zum modischen Accessoire.
Sinnbilder für Naturverklärung
Bei der Nachahmung der Antike war Schadow ebenso selbstbewusst wie Karl Friedrich Schinkel als Architekt. Damit haben beide Schule gemacht. Schadows Prinzessinnen im antiken Gewand sind nicht als griechische Mythologiewesen kostümiert. Ihre adlige Herkunft ist nur daran ablesbar, dass die ranghöhere Kronprinzessin eine etwas aufrechtere Haltung einnimmt. Die körperliche Intimität der beiden Schwestern, ihre Ungezwungenheit ist hier das Thema: Als von gesellschaftlichen Fesseln befreite Geschöpfe scheinen sie ganz bei sich – als Sinnbilder für die bürgerliche Verklärung der Natur.
Der erotomanische Preußenkönig Friedrich Wilhelm II. (1744-1797) hatte kein Problem damit, seine Schwiegertochter Luise in fast durchscheinender Gewandung den Blicken der Öffentlichkeit preiszugeben. Doch sein Sohn Friedrich Wilhelm III. (1770-1840), der Ehemann Luises, ließ nach seiner Krönung die Marmorskulptur in einem Winkel des Berliner Stadtschlosses verschwinden. Nicht als betörendes Mädchen sollte Luise nach ihrem frühen Tod 1810 im Gedächtnis bleiben, sondern als liebende Ehefrau und tapfere Kämpferin gegen Napoleon. Die Schwester Friederike wurde wegen ihres lockeren Lebenswandels vom Hof verstoßen. Erst 1906 war die Prinzessinnengruppe wieder öffentlich zu sehen.
Vom Helden- zum Charakterbild
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Karl Friedrich Schinkel – Entwürfe für Bildhauer" in der Alten Nationalgalerie
und hier eine Besprechung der Ausstellung "Winckelmann – Moderne Antike" zum 300. Geburtstag des Begründers von Kunstgeschichte und Klassizismus im Neuen Museum, Weimar
und hier einen Bericht über die Ausstellung "Schloss Bau Meister - Andreas Schlüter und das barocke Berlin" - große Werkschau zum 300. Todesjahr des Bildhauers im Bode-Museum, Berlin
und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Thomas Gainsborough - Die moderne Landschaft" - erste deutsche Werkschau des bedeutenden englischen Malers im 18. Jahrhundert in der Hamburger Kunsthalle.
Auf der Suche nach Naturwahrheit widmete sich Schadow auch der so genannten Phrenologie; sie war um 1800 groß in Mode. Durch exakte Vermessung von Köpfen sollten Rückschlüsse auf den Charakter von Menschen möglich sein. Seine Studien veröffentlichte Schadow unter dem Titel „Polyclet“ sowie 1835 im Band „National-Physiognomien“, der nicht frei ist von damals gängigen rassistischen Stereotypen.
Hauptsache auf Tuchfühlung
Zudem präsentiert die Ausstellung als Kontext Darstellungen von Geschwister- und Freundespaare seit dem 18. Jahrhundert – der Hochzeit von Empfindsamkeit und Freundschaftskult. Diese Zeitstimmung belegen hinreißende Schwesternporträts des englischen Malers Thomas Gainsborough (1727-1788). Johann Friedrich August Tischbein malte die preußischen Prinzessinnen in ähnlicher Haltung wie bei Schadows Skulptur.
Vom Klassizismus zieht die Ausstellung eine Linie bis zum Porträt zweier Freunde von Karl Hofer aus den 1920er Jahren und einem Tänzerinnenpaar des Bildhauers Gerhard Marcks aus den 1930er Jahren, der sich dabei mit Schadows Vorbild auseinandersetzte. Alle Werke sprechen ein Urbedürfnis nach körperlicher Nähe und intimer Verbundenheit zwischen zwei Menschen an; so bleibt trotz aller Analyse am Ende ein warmes Gefühl.