Die dritte Schöpfung: Nach der Entstehung der Welt und ihrer Umgestaltung durch die Industrialisierung hat nichts das Antlitz der Erde so sehr verändert wie die Erfindung der Kunststoffe. Egal wo man sich befindet – daraus besteht die Mehrzahl der gefertigten Dinge ringsherum. Oft imitiert Plastik auch herkömmliches Material wie Holz oder Metall.
Info
Plastic World
22.06.2023 - 01.10.2023
täglich außer montags 10 bis 19 Uhr,
mittwochs und donnerstags bis 22 Uhr
in der Schirn Kunsthalle, Römerberg, Frankfurt am Main
Katalog 39,- €
Weitere Informationen zur Ausstellung
Produktion hoch, Image schlecht
Dieser Rückstand könnte dadurch bedingt sein, dass der phänomenale Aufschwung der Plastik-Produktion mit ihrem Image-Verfall einher ging. Nur etwa zwei Jahrzehnte lang galten Kunststoffe als segenbringend und zukunftsweisend – seither überwiegt das Wissen, wie schädlich sie auf Mensch und Umwelt langfristig wirken. Was dem ständigen Anstieg des Ausstoßes keinen Abbruch tut, weil sie billig und haltbar sind; diese Schizophrenie prägt ja die heutige Ökonomie insgesamt.
Feature zur Ausstellung. © Schirn Kunsthalle
Riesenkondom als mobiles Büro
Sie kommt in der Schirn-Schau am deutlichsten beim größten Exponat zum Ausdruck. 1976 schuf Otto Piene, Mitbegründer der ZERO-Gruppe, für eine Organisation in New York ein begehbares Environment. „Anemones: An Air Aquarium“ füllt in der Schirn einen eigenen Saal mit Plastik-Nachbildungen von Seesternen, Kugelfischen, Hummern und anderem Meeresgetier. Zwischen den pneumatischen Gebilden, die von Ventilatoren mit Luft aufgeblasen werden, fühlt man sich beinahe wie unter Wasser. Und zugleich in einer Umweltsauerei: Der Dauerbetrieb verbraucht viel Energie – und die Kunststoffhüllen mussten für die Ausstellung rekonstruiert werden, weil die Originale nicht mehr dicht sind.
Solche Hüllen waren in den 1960/70er Jahren sehr populär. Angeregt von der Weltraumforschung wurde gern darüber fantasiert, dass sie Menschen neue künstliche Lebensräume bieten könnten. 1969 stellte Hans Hollein, der später mit Bauten wie dem Museum Abteiberg in Mönchengladbach oder dem Museum für Moderne Kunst in Frankfurt zu einem führenden Vertreter der postmodernen Architektur werden sollte, sein „mobiles Büro“ vor. Es sah wie ein transparentes Riesenkondom aus, das von einem Gebläse aufgepumpt wurde – so könne man überall ungestört arbeiten.
Militär-Heli mit Plexiglas-Kabine
Im Folgejahr installierte Graham Stevens monströse Kunststoff-Objekte in den Londoner St. Katherine Docks, durch die man hindurchlaufen konnte. 1971 rollten die Anarcho-Architekten von „Coop Himmelb(l)au“ in der überdimensionalen Plastikkugel „Restless Sphere“ durch Wien. Zwei Jahre später hängten ihre Kollegen von „Haus-Rucker-Co.“ zur documenta 5 in Kassel die noch größere Plastikblase „Oase Nr. 7“ an die Fassade des Fridericianums. Stabilere Hüllen wurden tatsächlich gebaut, etwa die von R. Buckminster Fuller entwickelten geodätischen Kuppeln.
All diese Blasen und Kugeln wirken wie Riesen-Spielzeuge für Erwachsene; da ließe sich trefflich über unbewusste Wünsche nach Rückkehr in den Mutterleib psychologisieren. Zugleich befeuerten diese Schutzräume martialische Träume von Unverwundbarkeit. So setzte die US-Army im Vietnam-Krieg Bell-Helicopter mit „Goldfischglas-Kabine“ aus Plexiglas ein; sie fliegen in der spektakulären Anfangsszene von Francis Ford Coppolas Kriegsfilm „Apocalypse Now“ (1979) in Schwärmen über die Leinwand.
Nanas zum Planschen am Badesee
Ähnlich befremdlich wirkt mittlerweile der überdimensionale „Forest Ranger“ von Pop-Art-Künstler James Rosenquist. Er malte 1967 ein paramilitärisches Fahrzeug auf dünne Plastikfolien-Streifen, die frei im Raum schwingen; dieses High-Tech-Material benötigte die NASA für Flüge ins Weltall. Solche Macho-Metaphorik konterten Pop-Art-Künstlerinnen mit Ironie, die aber nicht weniger verspielt erscheint.
Kiki Kogelnik schnitt Umrisse von Männern auf weicher Plastikfolie aus und hängte die schlaffen Pappkameraden über Bügel. Niki de Saint Phalle ließ ihre notorischen „Nanas“ als aufblasbare Gummi-Ballons anfertigen, fürs fröhliche Planschen am Badesee. Die silbernen Kunststoff-Kissen auf der „Femme“-Couch von Nicole L. sind weiblichen Körperteilen nachgebildet.
Schillernde Collagen aus Plastikmüll
Allein der Belgierin Evelyn Axell gelang es, dem künstlichen Material eine spezifische Ästhetik abzugewinnen. Mit Sprühfarben auf beschichteten Kunststoff-Scheiben schuf sie Porträts, die so erotisch wie artifiziell sind – verführerisch ätherische Wesen aus neuartigen Molekül-Ketten. Axells sinnliche Humanisierung von Plastik war einzigartig. Andere Akteure wie Lynda Benglis oder César, ein Vertreter des Nouveau Réalisme, berauschten sich eher an der grenzenlosen Verformbarkeit von Kunststoffschäumen. Deren hingegossene Plastikfladen, ob liegend oder hochkant, sehen heute nach angegammelter Materialschlacht aus.
Denn zur gleichen Zeit spießten andere Künstler längst die negativen Aspekte von Kunststoff auf. Ab 1960 füllte Arman, ebenfalls ein Nouveau Réaliste, Acrylglas-Kästen mit abgenutzten Plastik-Objekten – als Kommentar zur Überfluss- und Wegwerfgesellschaft. Der spätere Weltstar Christo begann seine Laufbahn als Verpackungskünstler mit Schreibmaschinen oder Zeitschriften, die er in dicke Plastikfolie einwickelte. In der Gegenwart fertigt der Äthiopier Elias Sime attraktiv schillernde Collagen aus Plastikmüll an, etwa aus bunten Kabeln oder Computer-Platinen.
Ehrfurcht gebietender Erdöl-Bohrkopf
Die meisten Kunststoff-Kritiker widmen sich allerdings den Auswirkungen auf die Umwelt. In der Ausstellung sind zwei italienische Arte-Povera-Künstler mit entgegen gesetzten Ansätzen zu sehen. Für sein „Eden Artificiale“ schnitt Gino Marotta aus grünen Acrylglas-Platten Gewächse und einen Flamingo zurecht – ihre Umrisse müssen für die Illusion vom Paradies ausreichen. Dagegen formte Piero Gilardi eine Palmen-Krone samt Nüssen und ein Stück Strand voller Kiesel täuschend echt aus Plastikschaum nach; solchen Real-Life-Simulationen gehört im Zeitalter des overtourism gewiss die Zukunft.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Otto Piene – More Sky" – große Doppel-Retrospektive des ZERO-Mitbegründers in der Neuen Nationalgalerie und der Deutsche Bank KunstHalle, Berlin
und hier eine Besprechung der Ausstellung "Pacific Standard Time" über "Kunst in Los Angeles 1950 - 1980" mit Werken aus neuen Materialien wie Polyester + Fiberglas im Martin-Gropius-Bau, Berlin
und hier einen Beitrag über die Ausstellung "POWER UP – Female Pop Art" mit Werken von Evelyn Axell, Niki de Saint Phalle + Kiki Kogelnik in der Städtischen Galerie Bietigheim-Bissingen
und hier eine Kritik der Ausstellung "Bucky Fuller & Spaceship Earth" über den mit neuen Werkstoffen experimentierenden Visionär Buckminster Fuller im MARTa Herford.
Nur Plastik kann alles werden
Umweltschäden hin oder her: Von entsprechend veredeltem Kunststoff geht immer noch ein unwiderstehlicher Reiz aus – das Versprechen, aus selbst erzeugtem Material eine eigene Welt zu bauen, also die ultimative Demiurgen-Hybris. Schon 1964 schuf der US-Künstler Craig Kauffman mit im Vakuum modellierten Plastik und Airbrush-Farben transluzide Objekte, deren zarter Oberflächen-Schmelz schlicht sexy aussieht. Berta Fischer ist seine zeitgenössische Nachfolgerin: Sie verformt bunte Plexiglas-Platten mittels Heißmangel derart, dass sie wie schwerelose Wolken im Raum zu schweben scheinen.
So treffen Wohl und Wehe des Plastik-Zeitalters auf engstem Raum aufeinander; klugerweise nicht chronologisch, sondern nach Aspekten der Materialbehandlung geordnet. Mag die Verheißung günstiger Konsumgüter für alle Welt längst zum Alptraum der Vermüllung mutiert sein – die Ausstellung benennt die Nachteile von Kunststoffen deutlich, ohne sie zu verteufeln. Denn ihr USP ist ungebrochen, wie der Katalog den Autor Mark Simpson zitiert: „Plastik ist anders als alles andere, weil nur Plastik alles werden kann.“