Stuttgart + Potsdam

Modigliani – Moderne Blicke

Amedeo Modigliani: Liegender Frauenakt mit weißem Kissen, c. 1917, © Staatsgalerie Stuttgart. Fotoquelle: Staatsgalerie Stuttgart
Porträtist der Frauenpower: So präsentieren Staatsgalerie und Museum Barberini den populären Klassiker in der ersten deutschen Werkschau seit 15 Jahren. Ihre Stärken sind ein kompetenter Überblick über alle Schaffensphasen und ausgiebige Vergleiche mit Zeitgenossen – nur sein engster Freund fehlt.

Der Titel dieser Ausstellung erscheint unsinnig. Moderne Blicke – was, bitteschön, soll das sein? Gibt es altmodische oder antiquierte Blicke? Wohl kaum, solange die Physis des Menschen noch nicht durch Cyborg-Operationen optimiert worden ist. Offenbar will der Titel etwas anderes besagen, was aber zu stark verkürzt wird. Wahrscheinlich ist Modernität generell gemeint, die in den Bildnissen von Amedeo Modigliani (1884-1920) zum Ausdruck komme; schließlich ist er vor allem für seine Porträts berühmt.

 

Info

 

Modigliani – Moderne Blicke

 

24.11.2023 - 01.04.2024

täglich außer motags 10 bis 17 Uhr,

donnerstags bis 20 Uhr

in der Staatsgalerie, Konrad-Adenauer-Str. 30 – 32, Stuttgart

 

Katalog 39,90 €

 

Weitere Informationen zur Ausstellung

 

27.04.2023 - 18.08.2024

täglich außer dienstags 9 bis 19 Uhr,

montags ab 10 Uhr

im Museum Barberini, Alter Markt, Potsdam

 

Weitere Informationen zur Ausstellung

 

Modernität und Moderne müssen im heutigen Kunstbetrieb als inflationär verwendete Gütesiegel herhalten. Es gibt kaum einen Künstler nach 1850, der nicht als Wegbereiter, Klassiker oder Impulsgeber der Moderne vermarktet würde; Ausstellungstitel mit solchen Wortkombinationen sind Legion. Scheinbar gilt die Werbefloskel Modernität als so positiv besetzt, dass derartige Werkschauen automatisch das Publikum in Scharen anlocken.

 

Bildchronist der Emanzipation

 

Wobei diese Worthülse allein sehr nebulös ist; sie muss inhaltlich gefüllt werden, um ihre Anziehungskraft zu entfalten. Was also ist an Modigliani besonders modern? Sein Frauenbild, betont diese Retrospektive, die nach der ersten Station in Stuttgart anschließend in Potsdam zu sehen ist. Mit leicht ermüdender Redundanz präsentiert sie den Maler als Bildchronisten der Emanzipation: „… von der Emanzipation der Frau als Modell – zur Emanzipation der Frau im Kunsthandel und der Emanzipation der Frau als Künstlerin“, so Staatsgalerie-Direktorin Christiane Lange.

Feature zur Ausstellung. © Staatsgalerie Stuttgart


 

Androgyn avant la lettre

 

Das richtet sich gegen das herkömmliche Image von Modigliani: Der früh an Tuberkulose Verstorbene sei ein drogensüchtiger Frauenheld gewesen. Mit diesem romantischen Ruf eines durch Exzesse dahingerafften Genies lässt sich nicht mehr punkten. Passend zum Zeitgeist konzentriert sich die Schau daher auf „Modiglianis androgyne Frauenbildnisse“. Sie will etwas umständlich belegen, er habe Merkmale der „Neuen Frau“ wie Bubikopf-Frisur oder Matrosen-Kragen bereits während des Ersten Weltkriegs quasi avant la lettre abgebildet, bevor sie nach dem Krieg in Mode kamen.

 

Plausibler ist die Interpretation von Modiglianis berühmt-berüchtigten Aktbildern. Auf Anraten seines Mäzens schuf er eine ganze Serie, die 1917 in seiner ersten Einzelausstellung in der Pariser Galerie von Berthe Weill gezeigt wurde. Aber nur bei der Vernissage: Nachdem die Polizei drohte, die unsittlichen Motive zu beschlagnahmen, ließ die Galeristin sie abhängen – doch der Vorfall beförderte des Malers Bekanntheit. Darin nur eine kalkulierte Provokation zu vermuten, wäre jedoch unfair.

 

Skandal-Teaser für Modigliani-Marke

 

Denn Modiglianis Akte vereinen Regelverstöße mit Rückgriffen auf traditionelle Regeln. Eine angeschnittene Perspektive, welche die Glieder außen vor lässt und den Rumpf nah an den Betrachter rückt; der direkt-offensive Blick seiner Modelle und die Darstellung ihres Schamhaars, was damals als unschicklich galt – all das war tatsächlich kühn und modern. Doch geläufige Venus-Posen, stilisierte Körperformen und schematische Gesichter, die an archaische und primitive Vorbilder erinnern, wirkten zugleich althergebracht und vertraut.

 

Diese Fusion einander entgegengesetzter Stilmerkmale mache die Originalität des Malers aus, argumentiert die Kunsthistorikerin Beate Söntgen im Katalog: „Mit den Modernitätssignalen Schamhaar, Neue Frau und Primitivismus, mit Skandal-Teasern und deren gleichzeitiger Rücknahme hat er die unverkennbare Marke ‚Modigliani‘ etabliert.“ Zu letzterem rechnet Kuratorin Nathalie Lachmann noch seine Anleihen bei Frauenbildern der Gotik und Frührenaissance. Damit habe er „eine Form moderner Madonnenbildnisse“ geschaffen – als attraktive Trostbilder in den krisenhaften Kriegs- und Nachkriegsjahren.

 

60 Werke aus allen Phasen

 

Und nicht nur für seine Epoche: Modigliani zählt bis heute zu den populärsten Malern der Klassischen Moderne. Auch in Deutschland, obwohl hierzulande nur vier Museen Arbeiten von ihm beherbergen – doch der Souvenir-Shop in Stuttgart quillt über vor Modigliani-Memorabilia, vom Taschenspiegel bis zur teuren Gemälde-Reproduktion. Daher ist diese Retrospektive jenseits aller Expertendebatten zunächst einmal eine seltene Gelegenheit, sein Œuvre umfassend kennenzulernen; die letzte fand vor 15 Jahren in Bonn statt.

 

Lässt man den Frauenpower-Fokus beiseite, bietet diese Zusammenstellung von rund 60 Werken – darunter etlichen Zeichnungen – eine guten Überblick über sämtliche Schaffensperioden. Nur die Phase von 1909 bis 1913, als er fast ausschließlich als Bildhauer arbeitete, kommt zu kurz. Gezeigt wird nur eine einzige Skulptur: der Kalksandstein-Kopf im Besitz der Kunsthalle Karlsruhe.

 

Blinde Augen für Blick nach innen

 

Dagegen sind Modiglianis künstlerische Weggefährten und Zeitgenossen mit 50 Exponaten üppig vertreten; angefangen von Vorbildern wie Cézanne und Rodin bis zu früh Vollendeten wie Egon Schiele oder August Macke, die ihre Motive in dieser oder jener Hinsicht ähnlich darstellten wie er. Was manchmal einleuchtet, manchmal nicht: Dass Paula Modersohn-Becker ihre Frauenakte so statuarisch anlegte wie Modigliani, springt ins Auge. Derjenige von Natalja Gontscharowa wirkt dagegen eher massig und plump.

 

Trotz aller Stilmittel, die damals weit verbreitet waren, hat Modigliani ein Alleinstellungsmerkmal: die Längung seiner Figuren, insbesondere ihrer Hälse und Gesichter. Was sie häufig ätherisch erscheinen lässt, wie nicht ganz von dieser Welt – zuweilen aber auch missgestaltet. Das Gleiche gilt für ein markantes Detail: Oft sind die Augen dieser Antlitze „blind“, also ohne Iris ausgemalt – oder nur eines von beiden. Es richte seinen Blick nach innen, hat Modigliani behauptet; ein merkwürdig spiritueller Zug in seiner ansonsten sehr weltlichen Kunst.

 

Enger Freund Chaïm Soutine

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Chaïm Soutine – Gegen den Strom" – hervorragende Retrospektive des engen Maler-Freunds von Modigliani in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen K20, Düsseldorf

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Paris Magnétique 1905 – 1940" über die "École de Paris" der Zwischenkriegszeit mit Werken von Modigliani im Jüdischen Museum, Berlin

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Esprit Montmartre. Die Bohème in Paris um 1900" - ausgezeichnete Überblicksschau mit Werken etlicher Avantgarde-Künstler in der Schirn, Frankfurt am Main.

 

Dem Rätsel, warum er die „Fenster der Seele“ derart behandelte, ließe sich vielleicht im Vergleich mit seinem engen Freund Chaïm Soutine (1893-1943) auf die Schliche kommen. Dieser anfangs mittellose Emigrant aus dem heutigen Belarus, Jude wie Modigliani, porträtierte seine Modelle auf ebenso unnachahmliche Weise: mit eigenartig verschobenen und deformierten Gliedmaßen. Und er malte Augen gleichfalls verschieden; manche scheinen zu schielen, manche driften völlig auseinander.

 

Ihm steht Modigliani künstlerisch in seinem Frühwerk vor dem Ersten Weltkrieg am nächsten; da haben seine Figuren oft expressionistisch eckige Gliedmaßen in giftigen Farben. Im Krieg wird seine Malweise glatter und gefälliger; Kopf und Hals gleichen nicht mehr Kugel auf Kegel, sondern gehen geschmeidig ineinander über. Doch leider ist von Soutine nur das Porträt ausgestellt, das sein Freund von ihm 1915 angefertigt hat – es gehört der Staatsgalerie.

 

Soutine-Absenz als Manko

 

Hingegen fehlen eigene Bilder des radikalen Einzelgängers; was umso bedauerlicher ist, als er jüngst durch eine große Retrospektive in Düsseldorf dem deutschen Publikum erstmals nach 40 Jahren wieder nahe gebracht worden ist. Dieses Manko bildet eine Leerstelle in der ansonsten aussagekräftig aufbereiteten Ausstellung.