Düsseldorf + Bern

Chaïm Soutine – Gegen den Strom

Chaïm Soutine: Häuser, 1920/21, Öl auf Leinwand, 58 × 92 cm, Musée de l’Orangerie, Paris bpk / RMN - Grand Palais / Hervé Lewandowski. Fotoquelle: Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen K20, Düsseldorf
Deformation mit menschlichem Antlitz: Durch seinen einzigartigen Stil gelang dem radikalen Einzelgänger Chaïm Soutine die wohl erstaunlichste Künstler-Karriere der Zwischenkriegszeit. Im Ausland hochberühmt, ist er hierzulande kaum bekannt – das ändert eine grandiose Retrospektive in K20 und Kunstmuseum.

Chaïm Soutine (1893-1943) war zeit seines Lebens ein radikaler Einzelgänger bis zu seinem frühen Tod – obwohl er in seiner Lebensmitte unversehens enormen Zuspruch erfuhr. Passend zu seinem Außenseitertum war sein Stil absolut einzigartig; er lässt sich keiner der geläufigen Strömungen zuordnen. Und dennoch: Gerade aufgrund seiner singulären Stellung hat sein Werk viele namhafte Künstler der Nachkriegszeit stark beeinflusst.

 

Info

 

Chaïm Soutine – Gegen den Strom

 

02.09.2023 - 14.01.2024

täglich außer montags 10 bis 19 Uhr

in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen K20, Grabbeplatz 5, Düsseldorf

 

Katalog 32 €

 

Weitere Informationen zur Ausstellung

 

16.08.2024 - 01.12.2024

täglich außer montags

10 bis 17 Uhr, dienstags bis 21 Uhr

im Kunstmuseum, Hodlerstrasse 12, Bern

 

Aber nicht in Deutschland, weil es hier kaum präsent ist: In deutschen Museen hängen nur acht seiner Gemälde. In der Schweiz gibt es dagegen umfangreichere Bestände. Die meisten Arbeiten von Soutine befinden sich jedoch in Frankreich und den USA; dort gilt er als einer der großen Solitäre der Moderne. Insofern ist es höchst verdienstvoll, dass die Kunstsammlungen NRW in Kooperation mit dem Kunstmuseum Bern hierzulande endlich Chaïm Soutine umfassend vorstellen. In der ersten Retrospektive seit 42 Jahren – die letzte fand 1981 in Münster statt.

 

Auflösung in kreiselnde Farbwirbel

 

Zu entdecken ist eine Malerei, die zeitweilig als expressionistisch etikettiert wurde, obwohl das nur auf den ersten Blick so wirken mag. Genauer betrachtet, hat Soutine mit dem deutschen Expressionismus – sei es dem der „Brücke“ oder des „Blauen Reiters“ – wenig zu tun. Deren Reduktion der Realität auf zugespitzte Formen und flächige Falschfarben ist seine Sache nicht. Im Gegenteil: Soutine verformt das Sichtbare, indem er es in verschlungene, kreiselnde Farbwirbel auflöst, ohne sich jemals vom Gegenständlichen zu verabschieden.

Trailer zur Ausstellung; © K20, Düsseldorf


 

Kunststudium mit Schmerzensgeld

 

Diese windungsreich flirrende Sicht auf die Wirklichkeit mag seinen beschwerlichen Lebensweg reflektieren. Soutine wurde als zehntes von elf Kindern eines jüdischen Flickschusters in einem belarussischen Schtetl nahe Minsk geboren. Seine Jugend war von Armut und Entbehrungen geprägt; seinen Wunsch, Künstler zu werden, quittierten die Eltern mit Unverständnis.

 

Ein Zufall half ihm: Als 14-Jähriger porträtierte er einen orthodoxen Juden, dessen Söhne ihn daraufhin schwer misshandelten. Die Eltern erstatteten Anzeige und erhielten Schmerzensgeld – dadurch konnten sie Chaïm auf die Kunsthochschule im litauischen Vilnius schicken. Die Stadt mit ihren rund 60.000 jüdischen Bewohnern, fast der Hälfte der Einwohnerschaft, wurde damals „Jerusalem des Ostens“ genannt.

 

Pyrenäen-Stipendium mit Schlaf in Scheune

 

Nach dem Studium emigrierte Soutine 1913 nach Paris; dort quartierte er sich in der berühmt-berüchtigten Künstlerkolonie „La Ruche“ („Der Bienenstock“) ein. Er sprach anfangs nur Jiddisch, war mittellos, lebte von Gelegenheitsarbeiten und übernachtete meist bei Freunden; sein engster wurde Amadeo Modigliani. Jahrelang ging es ihm materiell schlecht; häufiger Hunger löste ein chronisches Magenleiden aus, dem er schließlich drei Dekaden später erliegen sollte.

 

Durch Vermittlung Modiglianis nahm ihn der polnische Kunsthändler Leopold Zborowski unter Vertrag: Für ein geringes Tagessalär erhielt er sämtliche Arbeiten Soutines. 1919 schickte ihn Zborowski nach Céret; in dieser Pyrenäen-Kleinstadt hatten schon Picasso und Matisse gewirkt. Soutine blieb drei Jahre unter prekären Umständen und schlief in einer Scheune. Doch zugleich perfektionierte er seine Handschrift in rund 200 Bildern, die meisten davon Porträts oder Landschaften.

 

Schockwellen durch Häuser und Bäume

 

Letztere sprengten alles bis dahin Bekannte. Zwar hielt sich Soutine an die Dinge vor seinen Augen, denn er malte stets mit unmittelbarer Anschauung, nie aus der Erinnerung oder nach Skizzen. Doch auf der Leinwand verflüssigte sich alles in rhythmischen Vibrationen, als würden Schockwellen durch Häuser und Bäume laufen. Der „Dorfplatz in Céret“ (1920) kippt nach rechts wie beim Erdrutsch in einen Abgrund; die „Häuser“ (1920/1) tanzen wie Flammenzungen. Und der „Hügel von Céret“ (1921) scheint soeben in Farbstrahlen zu explodieren. Diese Welt ist völlig aus den Fugen.

 

Zwei Jahre später sind auf Bildern aus dem Mittelmeer-Küstenort Cagnes, den Soutine mehrfach bis 1925 aufsuchte, Fassaden und Wege immer noch in wilder Bewegung begriffen. Doch die Formen fallen gerundeter aus, etwas gefälliger, und die Farbpalette ist aufgehellt. Denn zwischen beiden Südfrankreich-Aufenthalten hatte sich etwas ereignet, was Soutines Dasein quasi auf den Kopf stellte – dank seines Porträts eines Konditors.

 

US-Sammler kauft 51 Bilder auf

 

1922 kaufte der US-Sammler Albert C. Barnes aus Philadelphia en gros in Paris ein, um eine Kollektion impressionistischer Malerei aufzubauen. Er sah Soutines Gemälde „Le patissier“, war begeistert, kontaktierte den Künstler und erwarb gleich 51 seiner Bilder vom Kunsthändler Paul Guillaume. Zum Preis von 30 bis 50 Francs – nur vier Jahre später sollten sie bei Auktionen zwischen 10.000 und 20.000 Francs erzielen.

 

Guillaume verbreitete die Kunde von Barnes‘ Großeinkauf, und im Handumdrehen wurde Soutine zum anerkannten Künstler, um dessen Werke man sich riss. War er kurz zuvor noch ein ungepflegter Habenichts gewesen, trug er nun feinen Zwirn und speiste in gehobenen Restaurants. Entsprechend änderten sich seine Sujets.

 

Kubismus-Variation à la Soutine

 

In Céret hatte er noch Randexistenzen porträtiert, die er fürs Modellsitzen nicht bezahlen musste: Straßenkinder, Alte oder einen Dorftrottel. Nun wählte er diejenigen, die ihm in Hotellerie und Gastronomie begegneten: Pagen, Kellner, Köche und Zimmermädchen. Der Personalwechsel ist so frappant, dass man schon die rosarote Brille aufsetzen muss, um ihn als Identifikation des Malers mit den Erniedrigten und Beleidigten der Großstadt zu verklären.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Paris Magnétique 1905 – 1940" – anschaulicher Überblick über jüdische Künstler der Zwischenkriegs-Zeit mit Werken von Chaïm Soutine im Jüdischen Museum Berlin

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Die Form der Freiheit – Internationale Abstraktion nach 1945" mit Künstlern des Abstrakten Expressionismus wie Jackson Pollock im Museum Barberini, Potsdam

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung  "Das nackte Leben: Bacon, Freud, Hockney und andere" über Malerei im Nachkriegs-London mit Werken von Francis Bacon + Frank Auerbach im LWL- Museum, Münster

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "Becoming CoBrA – Anfänge einer europäischen Kunstbewegung" – Themenschau zur neo-expressionistischen Künstlergruppe in der Kunsthalle Mannheim.

 

Auch sein Stil änderte sich. Zeigten die Bildnisse vorher noch traurige Gestalten mit hängenden Schultern, ähnlichen Farbschlachten wie seine Landschaften ausgesetzt, so wirkten sie nun selbstbewusster: mit breiten, teils hochgezogenen Schultern und homogeneren Körperformen. Wobei die Gesichter weiterhin seltsam verformt aussehen; mit ungleichen Augen – eines frontal und klar, eines verschoben und verwischt – und oft mit nach vorn geklappter Ohrmuschel, als kultiviere Soutine seine persönliche Spielart der kubistischen Mehransichtigkeit.

 

Massaker mit Tierkadavern

 

Jedenfalls wurde er kein gefälliger Salonkünstler; das demonstrieren seine Serien mit toten Tieren. Ob Hasen, Hühner, Fasane, Rochen oder ganze Rinderhälften: Stillleben mit Wildbret gibt es unzählige, aber kein anderer Künstler hat geschundene Kadaver so schonungslos brachial auf die Leinwand geworfen. Man vergleiche etwa Rembrandts „Geschlachteter Ochse“ von 1655 im Louvre, den Soutine bewunderte, mit dem, was er 1925 aus dem Thema macht: ein zwei Meter hohes Massaker in Blutrot und Nachtblau als Metapher für existentielles Leiden.

 

Was ihm nach dem Zweiten Weltkrieg, der noch ganz andere Gemetzel hervorbrachte, posthum zahlreiche Bewunderer bescherte. 1950 widmete ihm das Museum of Modern Art in New York eine große Werkschau; damit wurde er kanonisiert. So unterschiedliche Nachfolger wie die Abstrakten Expressionisten Jackson Pollock und Willem de Kooning, die Briten Francis Bacon und Frank Auerbach, die CoBra-Künstler um Asger Jorn und Karel Appel oder der Berserker Georg Baselitz ließen sich von ihm inspirieren.

 

„Menschen hat er nie zerstört“

 

Die Ursache für seinen Nachruhm in ganz verschiedenen Künstlerkreisen hat de Kooning prägnant formuliert: „Wenn man denn von Verzerrungen sprechen will: Aus unerfindlichen Gründen hat er nie Menschen verformt. Nur die Malerei. Man sieht die Menschen irgendwie vor sich. Malerei ist Malerei, aber Menschen hat er nie zerstört.“ Deformation mit humanem Antlitz – das beherrschte niemand besser als Soutine.