Berlin

Mythos und Massaker – Ernst Wilhelm Nay und André Masson

Ernst Wilhelm Nay (Berlin 1902–1968 Köln): Tanz der Fischerinnen, 1950, Öl auf Leinwand, 100 x 180 cm. Foto: Ernst Wilhelm Nay Stiftung, Köln © VG Bild Kunst, Bonn 2023
Gemalte Gemetzel: Der französische Surrealist André Masson und der deutsche Informel-Künstler Ernst Wilhelm Nay verarbeiteten Kriegs- und Gewalt-Erfahrungen. Sie trafen sich nie, doch ihre Bilder ähneln einander verblüffend – das zeigt eine beeindruckende Schau in der Sammlung Scharf-Gerstenberg.

Das Stechen, Würgen und Hauen will kein Ende nehmen: Fäuste ballen sich, werden gereckt, holen aus und prügeln aufeinander ein. Auf den Bildern von André Masson (1896-1987) hört die Schlägerei nicht auf; die Augen werden von peitschenartigen Linienzügen wie von Schwungriemen mitgerissen. Jähe Winkel nimmt das, in rasanten Kurven: Permanente Gewalterfahrung gerinnt in linearen Körper-Chiffren.

 

Info

 

Mythos und Massaker –
Ernst Wilhelm Nay und André Masson

 

08.12.2023 - 28.04.2023

täglich außer montags 10 bis 18 Uhr,

samstags + sonntags ab 11 Uhr

in der Sammlung Scharf-Gerstenberg, Schlossstr. 70, Berlin

 

Informatives Booklet kostenlos

 

Weitere Informationen zur Ausstellung

 

„Massacre“ von 1931 ist ein Hauptwerk des in Nordfrankreich geborenen Masson. Die spürbare Aggression paart sich hier aber mit einem irritierend harmonischen Wohlklang der Farben. Sonnig, warm und lebensprall leuchtet das Kolorit. Auf dieses Bild stieß Kuratorin Kyllikki Zacharias beim Blättern im Katalog vor ein paar Jahren durch Zufall: Sie stutzte. Ähnelten die Formen und Farben nicht verblüffend den Werken des deutschen Malers Ernst Wilhelm Nay (1902-1968)?

 

Stilistische Nähe ohne Beeinflussung

 

Nun hängt Massons Großformat als Herzstück im Zentrum der Ausstellung in der Sammlung Scharf-Gerstenberg; ergänzt durch 70 weitere Ölbilder, Aquarelle und Handzeichnungen beider Künstler. Sie alle werfen die Frage auf, wie solche stilistische Nähe möglich ist – ohne dass die beiden Maler einander schlicht plagiiert oder sich „beeinflusst“ haben, wie die Kunstgeschichte so gern sagt. Ganz so einfach ist die Sache nämlich nicht.

Trailer zur Ausstellung "Ernst Wilhelm Nay — Retrospektive" 2022/23; © Museum Wiesbaden


 

Anziehung und Abstoßung

 

Wer der Argumentation und sorgfältigen Hängung von Zacharias folgt, begreift etwas von den unterschwelligen Gedankengängen, Strömungen, Widersprüchen und komplexen Gemengelagen der Moderne in Zeiten des Krieges. Beide Protagonisten sind sich nie persönlich begegnet, wahrgenommen haben sie sich sehr wohl. Anziehung und Abstoßung, beides spielt hinein.

 

Zudem flicht die Ausstellung gezielt Einzelwerke anderer Künstler mit Signalwirkung in den Parcours ein. Denn die beiden Einzelgänger Masson und Nay waren dennoch eingebunden in ein Geflecht vielfältiger Impulse: Mit den Werken des Brücke-Expressionisten Ernst Ludwig Kirchner wuchs der in Berlin geborene Ernst Wilhelm Nay quasi auf. Die etwas schrillen Rosa- und Grüntöne des späten Kirchner und seine verknappten Körperbilder nimmt Nay mit auf seiner Suche nach einer eigenen Bildsprache.

 

Écriture automatique für die Kunst

 

Aber auch Picasso, insbesondere in seiner kubistischen Phase, wird für beide Künstler wichtig. Aus den prismatisch gebrochenen Raumsplittern des Kubismus und dem entfesselten Phantasieren der Surrealismus macht André Masson etwas Neues. Er übertrug die écriture automatique, das unbewusst-kreative Schreibverfahren der Surrealisten, als Zeichentechnik in die bildende Kunst: ein Schleusenöffner für die Imagination, wie sich bald zeigte.

Werke von André Masson; © The Secret Canvas


 

Exportschlager in den USA

 

Der locker in wilden Schwüngen über das Papier geführte Zeichenstift hinterließ Spuren, die sich assoziativ urplötzlich als Hände, Augen, Brüste, Bäuche, Vaginen und pralle Popos entpuppten. Masson blieb dabei. Auch Nays Bildrhythmen leben von diesem Zusammenspiel aus freiem Fließenlassen der Formen und interpretierender Kontrolle des Entstandenen.

 

Als André Masson 1942 mit seiner jüdischen Frau aus dem von der Wehrmacht besetzten Frankreich in die USA floh, exportierte er diese neue gestische Malerei nach Übersee. Jackson Pollock und Konsorten wussten rasch damit etwas anzufangen. Auch in der europäischen Nachkriegsmalerei, etwa bei Asger Jorn oder dem Glas-Künstler Georg Meistermann, finden sich Massons nierentischartig schwingenden Lineamente. Ein Epilog-Raum führt es exemplarisch vor Augen. Die Schrecken des Zweiten Weltkrieges scheinen in diesen abstraktionsseligen Bildern kaum mehr enthalten.

 

Mitten im besetzten Frankreich malen

 

Aber wie ist das eigentlich bei Ernst Wilhelm Nay, dem Informel-Matador der bundesdeutschen Nachkriegsära? Sein Weg von den impulsiven Ostseebildern des jungen Malers über die wilden Lofoten-Landschaften des von den Nazis Verfemten bis zu seinen großen Erfolgen in den 1950er Jahren wird in der Ausstellung nachgezeichnet. Wieviel Düsternis in Nays Werk schlummert, verraten schon frühe, kaum bekannte Surrealismus-Bilder mit ihren rätselhaften Kompositionen aus Fisch, Muschel und Fledermaus.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Die Form der Freiheit – Internationale Abstraktion nach 1945" im Museum Barberini, Potsdam mit Werken von Ernst Wilhelm Nay

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung  "Gewächse der Seele: Pflanzenfantasien zwischen Symbolismus und Outsider Art" im Wilhelm-Hack-Museum, Ludwigshafen mit Werken von André Masson

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "geteilt | ungeteilt: Kunst in Deutschland 1945 bis 2010" - profunder Überblick in der Galerie Neue Meister im Albertinum, Dresden mit Werken von Ernst Wilhelm Nay.

 

1939 meldet sich Nay freiwillig zur Wehrmacht und wird als Infanterist nach Frankreich versetzt. Dort findet er mitten im Krieg Gelegenheit und Muße, irgendwo in der Etappe künstlerisch zu arbeiten. Er spannt Leinwände auf und mischt seine Farben. Einheimische Kunst-Enthusiasten unterstützen ihn, ungeachtet der politischen und militärischen Feindschaften. Wuchernde Gartenszenen entstehen, Bilder von Paaren und weibliche Akte.

 

Liebesszenen gleichen Kämpfen

 

Bruchlos führt die Spur der semiabstrakten Motive bis in die Nachkriegsära hinein. Idyllik pur? Die Titel behaupten es: Von der Liebesinsel „Kythera“ ist die Rede, vom „Tanz der Fischerinnen“, der „Verkündigung“. Aber die Formen tragen Konflikte aus, sie kommen nie zur Ruhe. Liebesszenen gleichen Kämpfen, das Abstrakte steckt voller Gewalt.

 

Das unterschwellige Aggressionspotential von Nays Gemälden wird zurzeit besonders deutlich sichtbar. Die aktuellen Kriege haben auch den Blick auf seine und Massons Mythen und Massaker geändert; sie gehen einem nicht aus dem Kopf, während man diese Bilder betrachtet.

 

Kriegsfreiwilliger + Schüler

 

Auch Masson hatte sich als als 18-jähriger freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet. Aus dem Ersten Weltkrieg kehrte er schwer verletzt an Körper und Psyche zurück. Da ging der sechs Jahre jüngere Nay noch zur Schule. Was sie beide verbindet und was sie trennt, legt Denkspuren bis in die Gegenwart.