Das Stechen, Würgen und Hauen will kein Ende nehmen: Fäuste ballen sich, werden gereckt, holen aus und prügeln aufeinander ein. Auf den Bildern von André Masson (1896-1987) hört die Schlägerei nicht auf; die Augen werden von peitschenartigen Linienzügen wie von Schwungriemen mitgerissen. Jähe Winkel nimmt das, in rasanten Kurven: Permanente Gewalterfahrung gerinnt in linearen Körper-Chiffren.
Info
Mythos und Massaker –
Ernst Wilhelm Nay und André Masson
08.12.2023 - 28.04.2023
täglich außer montags 10 bis 18 Uhr,
samstags + sonntags ab 11 Uhr
in der Sammlung Scharf-Gerstenberg, Schlossstr. 70, Berlin
Informatives Booklet kostenlos
Weitere Informationen zur Ausstellung
Stilistische Nähe ohne Beeinflussung
Nun hängt Massons Großformat als Herzstück im Zentrum der Ausstellung in der Sammlung Scharf-Gerstenberg; ergänzt durch 70 weitere Ölbilder, Aquarelle und Handzeichnungen beider Künstler. Sie alle werfen die Frage auf, wie solche stilistische Nähe möglich ist – ohne dass die beiden Maler einander schlicht plagiiert oder sich „beeinflusst“ haben, wie die Kunstgeschichte so gern sagt. Ganz so einfach ist die Sache nämlich nicht.
Trailer zur Ausstellung "Ernst Wilhelm Nay — Retrospektive" 2022/23; © Museum Wiesbaden
Anziehung und Abstoßung
Wer der Argumentation und sorgfältigen Hängung von Zacharias folgt, begreift etwas von den unterschwelligen Gedankengängen, Strömungen, Widersprüchen und komplexen Gemengelagen der Moderne in Zeiten des Krieges. Beide Protagonisten sind sich nie persönlich begegnet, wahrgenommen haben sie sich sehr wohl. Anziehung und Abstoßung, beides spielt hinein.
Zudem flicht die Ausstellung gezielt Einzelwerke anderer Künstler mit Signalwirkung in den Parcours ein. Denn die beiden Einzelgänger Masson und Nay waren dennoch eingebunden in ein Geflecht vielfältiger Impulse: Mit den Werken des Brücke-Expressionisten Ernst Ludwig Kirchner wuchs der in Berlin geborene Ernst Wilhelm Nay quasi auf. Die etwas schrillen Rosa- und Grüntöne des späten Kirchner und seine verknappten Körperbilder nimmt Nay mit auf seiner Suche nach einer eigenen Bildsprache.
Écriture automatique für die Kunst
Aber auch Picasso, insbesondere in seiner kubistischen Phase, wird für beide Künstler wichtig. Aus den prismatisch gebrochenen Raumsplittern des Kubismus und dem entfesselten Phantasieren der Surrealismus macht André Masson etwas Neues. Er übertrug die écriture automatique, das unbewusst-kreative Schreibverfahren der Surrealisten, als Zeichentechnik in die bildende Kunst: ein Schleusenöffner für die Imagination, wie sich bald zeigte.
Werke von André Masson; © The Secret Canvas
Exportschlager in den USA
Der locker in wilden Schwüngen über das Papier geführte Zeichenstift hinterließ Spuren, die sich assoziativ urplötzlich als Hände, Augen, Brüste, Bäuche, Vaginen und pralle Popos entpuppten. Masson blieb dabei. Auch Nays Bildrhythmen leben von diesem Zusammenspiel aus freiem Fließenlassen der Formen und interpretierender Kontrolle des Entstandenen.
Als André Masson 1942 mit seiner jüdischen Frau aus dem von der Wehrmacht besetzten Frankreich in die USA floh, exportierte er diese neue gestische Malerei nach Übersee. Jackson Pollock und Konsorten wussten rasch damit etwas anzufangen. Auch in der europäischen Nachkriegsmalerei, etwa bei Asger Jorn oder dem Glas-Künstler Georg Meistermann, finden sich Massons nierentischartig schwingenden Lineamente. Ein Epilog-Raum führt es exemplarisch vor Augen. Die Schrecken des Zweiten Weltkrieges scheinen in diesen abstraktionsseligen Bildern kaum mehr enthalten.
Mitten im besetzten Frankreich malen
Aber wie ist das eigentlich bei Ernst Wilhelm Nay, dem Informel-Matador der bundesdeutschen Nachkriegsära? Sein Weg von den impulsiven Ostseebildern des jungen Malers über die wilden Lofoten-Landschaften des von den Nazis Verfemten bis zu seinen großen Erfolgen in den 1950er Jahren wird in der Ausstellung nachgezeichnet. Wieviel Düsternis in Nays Werk schlummert, verraten schon frühe, kaum bekannte Surrealismus-Bilder mit ihren rätselhaften Kompositionen aus Fisch, Muschel und Fledermaus.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Die Form der Freiheit – Internationale Abstraktion nach 1945" im Museum Barberini, Potsdam mit Werken von Ernst Wilhelm Nay
und hier eine Besprechung der Ausstellung "Gewächse der Seele: Pflanzenfantasien zwischen Symbolismus und Outsider Art" im Wilhelm-Hack-Museum, Ludwigshafen mit Werken von André Masson
und hier einen Beitrag über die Ausstellung "geteilt | ungeteilt: Kunst in Deutschland 1945 bis 2010" - profunder Überblick in der Galerie Neue Meister im Albertinum, Dresden mit Werken von Ernst Wilhelm Nay.
Liebesszenen gleichen Kämpfen
Bruchlos führt die Spur der semiabstrakten Motive bis in die Nachkriegsära hinein. Idyllik pur? Die Titel behaupten es: Von der Liebesinsel „Kythera“ ist die Rede, vom „Tanz der Fischerinnen“, der „Verkündigung“. Aber die Formen tragen Konflikte aus, sie kommen nie zur Ruhe. Liebesszenen gleichen Kämpfen, das Abstrakte steckt voller Gewalt.
Das unterschwellige Aggressionspotential von Nays Gemälden wird zurzeit besonders deutlich sichtbar. Die aktuellen Kriege haben auch den Blick auf seine und Massons Mythen und Massaker geändert; sie gehen einem nicht aus dem Kopf, während man diese Bilder betrachtet.
Kriegsfreiwilliger + Schüler
Auch Masson hatte sich als als 18-jähriger freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet. Aus dem Ersten Weltkrieg kehrte er schwer verletzt an Körper und Psyche zurück. Da ging der sechs Jahre jüngere Nay noch zur Schule. Was sie beide verbindet und was sie trennt, legt Denkspuren bis in die Gegenwart.