Berlin

„Die nackte Wahrheit und anderes“ − Aktfotografie um 1900

Wilhelm von Gloeden: Sizilianische Knaben bei Taormina, 1896, Albuminpapier. Foto: Staatliche Museen zu Berlin
Körper wird zu etwas, das man hat und nicht ist: Um 1900 entsteht die moderne Selbstwahrnehmung. Anhand von Nackt-Aufnahmen, die massenhaft im Umlauf kommen − das Museum für Fotografie präsentiert sie in allen Facetten.

So toll trieben es die alten Fotografen: nur nackte Leiber, wohin man sieht. Völlig schamlos, in allen erdenklichen Posen und Ausführungen auf Hunderten von Bildern. Die sind allerdings mehr oder weniger angegilbt: Alle gezeigten Aufnahmen entstanden vor mehr als 100 Jahren.

 

Info

 

"Die nackte Wahrheit und anderes" − Aktfotografie um 1900

 

03.05.2013 - 25.08.2013

täglich außer montags

10 bis 18 Uhr

donnerstags bis 20 Uhr im Museum für Fotografie, Jebensstraße 2, Berlin

 

Katalog 44 €

 

Weitere Informationen

 

Um die vorvorige Jahrhundertwende wird „der Akt öffentlich“, will das Museum für Fotografie zeigen. Natürlich gibt es schon immer unbekleidete Figuren. Und seit den Anfängen der Fotografie ab 1840 werden Menschen hüllenlos abgelichtet. Doch erst um 1900 erobern solche Darstellungen die öffentliche Wahrnehmung.

 

Systematische Zensur endet 1908

 

Fotografieren war einfach und billig geworden. Aufnahmen werden massenhaft vervielfältigt, verschickt und gehandelt; über und unter dem Ladentisch. Der Bilderflut können staatliche Autoritäten wenig entgegensetzen: Nach 1908 verzichtet man im Deutschen Reich darauf, kategorisch verbieten zu wollen, was das „Schamgefühl gröblich verletzt.“


Impressionen der Ausstellung


 

Akt-Aufnahmen als Künstler-Vorlagen

 

Denn was genau sollte das sein? Fotografen sind Sittenwächtern stets voraus, indem sie vermeintlich anstößige Bilder in andere Kontexte stellen. Etwa, indem sie Nacktbilder − gern mit mythologischen Zutaten verbrämt − als kostengünstige Vorlagen für Maler und Bildhauer anbieten, damit die sich lebende Modelle ersparen. Umgekehrt wollen die so genannten Piktorialisten mit hochwertigen Akt-Aufnahmen Fotografie zur eigenständigen Kunstform aufwerten.

 

Oder Aktbilder dienen als Anschauungs-Material für Zeitschriften über Sport und Leibesübungen, die im Zuge der Lebensreform-Bewegung sehr populär werden. Diese Magazine sind voller Trainings-Anleitungen für kraftstrotzende Athletenkörper und illustrieren sie passend.

 

Freiheit für männliche Kultur

 

Einige der Vorturner werden zu Stars: Der „perfekte Mann“ Eugen Sandow vermarktet sich multimedial in Broschüren und Filmen, in denen er für seine „Körperschule“ wirbt. Olga Desmond wird als „Lebender Marmor“ berühmt: Regungslos stellt sie Skulpturen nach. Später führt sie in Berlin einen „Schwertertanz“ auf, bei dem sie nur Gürtel um die Hüften trägt.

 

Veranstalter dieser Abende ist Karl Vanselow, Verleger der Zeitschriften „Schönheit“ und „Geschlecht und Gesellschaft“, die in jeder Ausgabe Akt-Aufnahmen drucken. Es gibt viele solcher Publikationen, darunter „Der Eigene. Ein Blatt der Freiheit für männliche Kultur“. Dessen Herausgeber Adolf Brand wirbt recht unverblümt für homosexuelle Emanzipation.

 

Unbekleidetes Schönheits-Ideal

 

Bildmaterial liefern ihm Fotografen wie Wilhelm von Gloeden: Er postiert seine oft sehr jungen Modelle in mediterran anmutenden Kulissen und staffiert sie antik oder orientalisch aus. Damit bedient er Sehnsüchte nach einem idyllischen Arkadien, in dem die Liebe zu Männern und Knaben straffrei wäre.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Die Geburtsstunde der Fotografie" in den Reiss-Engelhorn-Museen, Mannheim

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Das Koloniale Auge" – Frühe Porträtfotografie in Indien im Museum für Fotografie, Berlin

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "KunstFotografie – Emanzipation eines Mediums" - über die Bewegung der Piktorialisten im Kupferstichkabinett Dresden

 

Solche Aktaufnahmen beeinflussen mit ihren Schönheits- und Leibes-Idealen die Selbstwahrnehmung ihrer Betrachter. Nicht, wie früher, in modische Kleidung gehüllt, sondern nackt: Der eigene Körper wird zu etwas, das man hat und nicht ist. Fortan gilt es, ihn zu verbessern und zu veredeln − bis zum heutigen Gesundheits- und Fitnesswahn.

 

Eintauchen in die Bilderflut

 

Daneben entstehen Bilderserien verschiedener Eigenschaften und Defizite: Man dokumentiert systematisch Bewegungsabläufe, Krankheiten oder die Eigenheiten  diverser Völker. Für Wissenschaft und Medizin, aber auch dubiose anthropologische Theorien, die in krude Rassenlehren münden werden.

 

All diese Aspekte werden in der Ausstellung reich bebildert, aber nur inhaltlich nur angetippt. Anstelle arg knapper Erläuterungs-Texte würde man sich ein paar Schwerpunkte wünschen, in denen erklärt wird, wie die jeweiligen Aufnahmen entstanden und wozu genau sie verwendet wurden. Doch davor kapitulierten schon die Zensoren vor 100 Jahren: Da bleibt nur schaulustvolles Eintauchen in die Bilderflut.