Berlin

Jimmy Nelson: Before They Pass Away

Sarbore, Maasai, Serengeti, Tansania 2010. Foto: CWC Gallery, Berlin
Visuelle Rettung des Weltkulturerbes: Jimmy Nelson fotografiert archaisch lebende Völker aller Kontinente. Ihren Traditionen verleiht Hochglanz-Ästhetik faszinierenden Glamour – die Galerien Camerawork und CWC stellen 80 Werke erstmals hierzulande aus.

Früher hießen sie Eingeborene oder Ureinwohner, heute nennt man sie politisch korrekt indigene Völker – gemeint sind stets Volksgruppen, deren eigene Kulturen von Einwanderern oder Eroberern unterdrückt oder überformt wurden.

 

Info

 

Jimmy Nelson:
Before They Pass Away

 

08.03.2014 - 19.04.2014

dienstags bis samstags
11 bis 18 Uhr in der Galerie  CAMERA WORK, Kantstraße 149, Berlin +

 

08.03.2014 - 21.06.2014

dienstags bis samstags
11 bis 19 Uhr in der  CWC GALLERY, Auguststraße 11–13, Berlin

 

Weitere Informationen

 

Die Eindringlinge waren nicht immer Weiße. Die Kultur der Ainu, der Ureinwohner von Hokkaido, wurde von den Japanern ausgemerzt. Noch heute leben in Indien etliche kleine Völker, die ihre Eigenarten mehr oder weniger gegen die dominante Hindu-Kultur behaupten können.

 

Konsum-Kultur verdrängt alles

 

Doch die eifrigsten Kultur-Killer kamen aus dem Abendland: Ein halbes Jahrtausend lang verbreiteten sie Christentum und europäischen Lebensstil in der übrigen Welt. Nach der Entkolonialisierung hat sich die Auslöschung lokaler Kulturen paradoxerweise sogar beschleunigt: Im Eiltempo verdrängen Standards der globalen Konsum-Kultur alle anderen Traditionen.


Impressionen der Ausstellung


 

Sorgfältig inszenierte Künstlichkeit

 

Spuren davon will Jimmy Nelson bewahren, zumindest visuelle. Der britische Fotograf hat mehr als 40 Länder bereist, um indigene Völker in ihrem natürlichen Siedlungsraum abzulichten; erstmals in Deutschland werden nun 80 seiner Bilder in den Galerien Camerawork und CWC gezeigt. Dabei geht es nicht um Ethnien, sondern um bedrohte Kulturen: etwa auch die Lebensweise der Gauchos in Argentinien.

 

Mit herkömmlicher Völkerkunde-Fotografie, die Alltag neutral und nüchtern dokumentiert, hat Nelsons Arbeit nichts gemein. Dass er sein Geld mit Werbung verdient, sieht man sofort: Jede Aufnahme ist sorgfältig inszeniert; manche stellen ihre Künstlichkeit geradezu aus. Das verleiht diesen Bildern faszinierenden Glamour, der puristische Ethnologen befremden dürfte.

 

Äthiopierinnen posieren wie Fußball-Team

 

Archaisch anmutende Erscheinungen nähert Nelson heutigen Sehgewohnheiten an – und stellt sie dadurch auf eine Ebene mit dem Betrachter. Seine Schwarzen, Indios oder Papuas hocken nicht in Hütten oder gehen mit Speeren auf die Jagd. Stattdessen steigen sie aufs Podest, werfen sich in Pose und spielen mit Attributen von Macht und Ansehen; sie locken mit ihren Reizen wie Models auf Reklame-Postern.

 

Wobei manche Gesten universell und zeitlos sind: Zwei Bewohner von Vanuatu thronen mit Pfeil und Bogen auf dem Gipfel ihres Pazifik-Eilands wie Alleinherrscher dieser überschaubaren Insel. Andere Arrangements wirken wie den Massenmedien abgeschaut. Eine Mädchen-Schar in Äthiopien gruppiert sich wie ein Fußball-Team: Die Kleineren liegen seitlich aufgestützt vorne, die Größeren kauern dahinter.

 

Mongolen-Reiter wie im Western

 

Drei Mongolen mit Jagdfalken reiten über den Grat einer mächtigen Gebirgskette und spähen in die Sonne: Hier wird unentscheidbar, ob Fotograf oder Darsteller sich an klassischen Western-Szenen orientieren – oder umgekehrt Hollywood-Regisseure solche Motive aus der Selbstdarstellung von Reiter-Nomaden übernahmen. Jedenfalls sind sie nur allzu vertraut.

 

Bei Wahl der Schauplätze und Komposition der Bilder reden die Menschen mit, die Nelson fotografiert: Ranghöhere bestehen meist darauf, die Anderen zu überragen oder höher postiert zu sein. Außerdem legen sie ihren Festtags-Staat an – mit Körperbemalung, aufwändigem Schmuck und üppiger Ausstattung. Der Reichtum einer Kultur zeigt sich im Ausnahmefall: bei Hochzeiten, Beerdigungen oder auf dem Kriegspfad.

 

Hauben mit grünen Käfern besetzt

 

Dabei kommen erstaunliche Details zum Vorschein. Kalam-Männer aus dem Hochland von Papua-Neuguinea tragen nicht nur untertassengroßen Nasenschmuck aus Schildpatt, sondern auch Tiara-förmige Hauben, die ringsum mit metallischgrünen Käfern besetzt sind. Die Karo in Äthiopien flechten sich ganze Blumen- und Zweig-Gebinde ins Haar.

 

Kafema-Frauen in Namibia fixieren auf dem Scheitel bizarre Objekte, die wie Krebs-Scheren aus Rinde aussehen. Und im indischen Himalaya setzen die Frauen von Ladakh den Perag auf: eine Art Scheuklappen-Hut mit Oberklappe, die mit Edelsteinen und Silber bestickt ist.

 

Kultur am eigenen Körper tragen

 

Diese Parade exotischer Accessoires gleitet nie in eine freak show ab. Im Gegenteil: Nelson bemüht sich sichtlich, die Porträtierten in würdevoller Haltung abzulichten. In dichte Pelze gehüllte Mongolen oder sibirische Tschuktschen posieren in Dreiviertelansicht wie Renaissance-Herrscher. Drei Dassanech-Mädchen aus Äthiopien neigen ihre Köpfe zueinander wie antike Grazien. Und Papua-Männer reihen sich stolz auf wie eine Phalanx unbesiegbarer Krieger.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Steve McCurry – Im Fluss der Zeit"Fotografien aus Asien 1980 – 2011 im Kunstmuseum Wolfsburg

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung  “Gesichter Afghanistans”  mit Fotografien von 1953 im Willy-Brandt-Haus, Berlin

 

und hier ein Bericht über die Ausstellung "Momente des Selbst" über afrikanische "Porträtfotografie und soziale Identität" in The Walther Collection, Burlafingen bei Neu-Ulm.

 

Trotz aller Unterschiede verbindet diese Bewohner aller Kontinente eines: Niemand lacht. Gefasster Ernst umflort ihre Blicke, als wüssten sie um die Tragik ihres Auftritts, der zur Musealisierung bestimmt ist: in der Fotogalerie oder dem Prachtbildband. Sie inszenieren am eigenen Körper ein letztes Mal die ganze Fülle ihrer einzigartigen Kultur – die im Begriff ist, zu verschwinden.

 

Unikate für sechsstellige Preise

 

Um davon wenigstens eine Ahnung zu behalten, reist der Fotograf in die unwegsamsten Gebiete. Er arbeitet mit einer 50 Jahre alten Plattenkamera, die brillante Auflösung und Farben liefert; selbst wenn minus 40 Grad herrschen und seine Finger am Apparat festfrieren. Solcher Aufwand begründet bis zu sechsstellige Preise für metergroße Unikate seiner Bilder.

 

Ihr Wert ist ohnehin unbezahlbar. Jeder weiß, dass dauernd weitere seltene Pflanzen und Tiere aussterben. Dagegen kämpft eine bunte Allianz aus internationalen Organisationen, Umweltschutz-NGOs und Pharma-Unternehmen, um das genetische Welterbe zu erhalten und zu nutzen.

 

Juwelen im globalisierten Sand

 

Doch kaum jemanden kümmert, dass nicht weniger Kulturen vom Aussterben bedroht sind: Sprachen, Trachten, Handwerkstechniken, Spiele, Sitten und Gebräuche – die ganze Vielfalt menschlichen Verhaltens. Sie wird achselzuckend den Mühlen der Globalisierung überlassen; die mahlen geschwind und trefflich fein. Nelson klaubt eilends noch ein paar besonders schöne Juwelen heraus, bevor alles zu gleichförmigem Sand zerrieben sein wird.