Alle Kunst schöpft aus dem Leben und verwandelt es in Unbelebtes: Materie wird in eine Form gezwungen, die nicht dem Kreislauf von Werden und Vergehen unterliegt. Kunst überdauert das Leben: ars longa, vita brevis.
Info
Bios - Konzepte
des Lebens in der zeitgenössischen Skulptur
26.08.2012 – 11.11.2012
täglich außer montags
10 bis 18 Uhr im
Georg Kolbe Museum,
Sensburger Allee 25, Berlin
Katalog 16 €
Leben ist Stoffwechsel + Fortpflanzung
13 zeitgenössische Pygmalion-Nachfahren versammelt das Georg Kolbe Museum in seiner «Bios»-Schau: Ihre Arbeiten beschäftigen sich mit Phänomenen des Lebendigen. Der Untertitel «Konzepte des Lebens in der Skulptur» klingt paradox ̶ als sei Leben etwas Verhandelbares und nicht eindeutig durch Stoffwechsel und Fortpflanzung definiert.
Interview mit Kurator Marc Wellmann + Impressionen der Ausstellung
Öko-System in der Plastik-Flasche
Doch Natur ist keine autarke Sphäre mehr: Mikrobiologie und Gentechnik greifen tief in ihre Baupläne ein und erzeugen natürlich-künstliche Zwitterwesen. Damit verschwimmt die Grenze zwischen Natur und Kultur, ihr Gegensatz wird aufgehoben ̶ menschlicher Einfluss auf die Umwelt gewinnt eine neue Qualität.
Ein selbst geschaffenes Öko-System kreiert der dänische Künstler Tue Greenfort mit einfachsten Mitteln: Für «Closed Biosphere» füllte er 2003 eine Plastikflasche mit Teich-Wasser und verschloss sie. Seither lässt Sonnenlicht darin Mikro-Organismen gedeihen. Dieselbe Energie-Quelle treibt auch die «Manna-Maschine» von Thomas Feuerstein an: Durch einen Kreislauf aus Schläuchen und Röhren wird eine Algen-Lösung gepumpt. Die Algen vermehren sich durch Photosynthese und färben die Flüssigkeit grün.
Hühner-Ei aus Künstler-Sperma
Der Beitrag von Gerda Steiner & Jörg Lenzlinger demonstriert ebenso unkontrolliertes Wachstum: Sie installieren Gefäße voller Harnstoff-Lösungen. Wird ihnen dieser Stoff regelmäßig zugeführt, laufen Kristallisations-Prozesse ab ̶ allmählich wuchern Gebilde von bizarrer Schönheit. Dagegen zersetzt sich die «Bio-Wurstwolke», ebenfalls von Tue Greenfort, zwischen Glas-Scheiben ohne menschliches Zutun.
Nicht alle gezeigten Werke führen ein derartiges Eigenleben. Die meisten verharren in ihrem Ausgangs-Zustand ̶ selbst wenn sie aus Bio-Masse sind. Wie das Hühner-Ei, das Brad Downey aus eigenem Sperma geformt hat: Es bleibt frisch und ansehnlich, solange es gekühlt wird. Oder die Skulptur «Gorgo» des Belgiers Peter Buggenhout aus organischen Abfällen: Das Gebilde wirkt abstoßend, aber regungs- und damit harmlos.
Meeres-Getier aus Plastik-Spielzeug
Attraktiver sind Exponate, die umgekehrt mit künstlichen Materialien Lebewesen simulieren. Wie «Sea Life» des US-Künstlers Mark Dion, der oft etliche Objekte zu Wunderkammern der Wahrnehmung zusammenstellt. Hier präsentiert er eine Vitrine, die mit durchsichtigen Gefäßen voll bunter Dinge gefüllt ist; sie scheinen auf den ersten Blick Präparate von Meeres-Getier zu sein. Es handelt sich aber um Plastik-Utensilien vom Kinder- bis zum Sex-Spielzeug: Die Kunststoff-Industrie imitiert die Unterwasser-Welt.
Der Israel Eli Gur Arie steuert zwei Skulpturen bei, die ebenfalls vertraut aussehen, obgleich leicht überdimensioniert: einen menschlichen Fuß, daneben einen großen Seestern. Doch mit beiden stimmt etwas nicht: An der Ferse klebt eine rote Masse wie ein unbekannter Parasit; an einem Seestern-Arm enthüllt umgestülpte Haut eine Art Zunge mit Tentakeln. Befremdliche Alien-Ästhetik, die Gur Arie mit lackiertem Kunststoff erzeugt.
Riesen-Tintenfisch aus glasierter Keramik
Hintergrund
Lesen Sie hier einen Bericht über den documenta-13-Standort "Ottoneum" mit einer "Holz-Bibliothek" von Mark Dion in Kassel
und hier eine Besprechung der Ausstellung "Über die Metapher des Wachstums" mit Werken von Gerda Steiner + Jörg Lenzlinger im Kunstverein Hannover
und hier einen Bericht über die Ausstellung "Cut & Mix: Kunst aus Peru und Chile" mit Werken von David Zink Yi in der ifa-Galerie, Berlin
und hier einen kultiversum-Beitrag zur Ausstellung "WeltWissen" über 300 Jahre Wissenschafts-Geschichte mit Werken von Mark Dion im Martin Gropius Bau, Berlin.
Andere Künstler reihen Mutanten auf: Brandon Ballengée konserviert Frösche mit verkümmerten Gliedmaßen. Oder sie zeigen, wie liebenswert Monster sein können: Eine hyperrealistische Frauen-Figur von Patricia Piccinini ist am ganzen Körper behaart ̶ dieser Gen-Defekt wird Hypertrichosis genannt. In den Armen wiegt sie ein nacktes, augenloses Kopffüßler-Baby; ihre Geste zärtlicher Zuwendung hat etwas Anheimelndes.
Skulpturen wie aus life-sciences-Laboren
Zum Knuddeln sind auch die flauschigen Pelz-Kugeln, die Günter Weseler über eine Wand wandern lässt. Und scheinbar lebendig: Ihre weichen Fell-Fasern heben und senken sich, als würden sie atmen. Was ein technischer Trick bewirkt ̶ sie werden von Elektro-Motoren angetrieben. Dennoch kann man sich der Anziehungskraft des Schlüssel-Reizes kaum entziehen.
So führt diese Ausstellung anhand einer kleinen, klug komponierten Auswahl vor, was Skulptur heute alles kann: Mit raffiniert bearbeiteten Werkstoffen gelingen Künstlern ebenso variantenreiche Neuschöpfungen wie Gentechnik-Tüftlern in Laboren der life sciences. Ohne zu dämonisieren, wird die gesamte Spannbreite des derzeit Mach- und künftig Denkbaren entfaltet. Womit Kurator Marc Wellmann das Georg Kolbe Museum, dessen Namensgeber noch lebensgroße Bronze-Akte schuf, eindeutig im 21. Jahrhundert positioniert.