So toll trieben es die alten Fotografen: nur nackte Leiber, wohin man sieht. Völlig schamlos, in allen erdenklichen Posen und Ausführungen auf Hunderten von Bildern. Die sind allerdings mehr oder weniger angegilbt: Alle gezeigten Aufnahmen entstanden vor mehr als 100 Jahren.
Info
"Die nackte Wahrheit und anderes" − Aktfotografie um 1900
03.05.2013 - 25.08.2013
täglich außer montags
10 bis 18 Uhr
donnerstags bis 20 Uhr im Museum für Fotografie, Jebensstraße 2, Berlin
Katalog 44 €
Systematische Zensur endet 1908
Fotografieren war einfach und billig geworden. Aufnahmen werden massenhaft vervielfältigt, verschickt und gehandelt; über und unter dem Ladentisch. Der Bilderflut können staatliche Autoritäten wenig entgegensetzen: Nach 1908 verzichtet man im Deutschen Reich darauf, kategorisch verbieten zu wollen, was das „Schamgefühl gröblich verletzt.“
Impressionen der Ausstellung
Akt-Aufnahmen als Künstler-Vorlagen
Denn was genau sollte das sein? Fotografen sind Sittenwächtern stets voraus, indem sie vermeintlich anstößige Bilder in andere Kontexte stellen. Etwa, indem sie Nacktbilder − gern mit mythologischen Zutaten verbrämt − als kostengünstige Vorlagen für Maler und Bildhauer anbieten, damit die sich lebende Modelle ersparen. Umgekehrt wollen die so genannten Piktorialisten mit hochwertigen Akt-Aufnahmen Fotografie zur eigenständigen Kunstform aufwerten.
Oder Aktbilder dienen als Anschauungs-Material für Zeitschriften über Sport und Leibesübungen, die im Zuge der Lebensreform-Bewegung sehr populär werden. Diese Magazine sind voller Trainings-Anleitungen für kraftstrotzende Athletenkörper und illustrieren sie passend.
Freiheit für männliche Kultur
Einige der Vorturner werden zu Stars: Der „perfekte Mann“ Eugen Sandow vermarktet sich multimedial in Broschüren und Filmen, in denen er für seine „Körperschule“ wirbt. Olga Desmond wird als „Lebender Marmor“ berühmt: Regungslos stellt sie Skulpturen nach. Später führt sie in Berlin einen „Schwertertanz“ auf, bei dem sie nur Gürtel um die Hüften trägt.
Veranstalter dieser Abende ist Karl Vanselow, Verleger der Zeitschriften „Schönheit“ und „Geschlecht und Gesellschaft“, die in jeder Ausgabe Akt-Aufnahmen drucken. Es gibt viele solcher Publikationen, darunter „Der Eigene. Ein Blatt der Freiheit für männliche Kultur“. Dessen Herausgeber Adolf Brand wirbt recht unverblümt für homosexuelle Emanzipation.
Unbekleidetes Schönheits-Ideal
Bildmaterial liefern ihm Fotografen wie Wilhelm von Gloeden: Er postiert seine oft sehr jungen Modelle in mediterran anmutenden Kulissen und staffiert sie antik oder orientalisch aus. Damit bedient er Sehnsüchte nach einem idyllischen Arkadien, in dem die Liebe zu Männern und Knaben straffrei wäre.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Die Geburtsstunde der Fotografie" in den Reiss-Engelhorn-Museen, Mannheim
und hier eine Besprechung der Ausstellung "Das Koloniale Auge" – Frühe Porträtfotografie in Indien im Museum für Fotografie, Berlin
und hier einen Bericht über die Ausstellung "KunstFotografie – Emanzipation eines Mediums" - über die Bewegung der Piktorialisten im Kupferstichkabinett Dresden
Eintauchen in die Bilderflut
Daneben entstehen Bilderserien verschiedener Eigenschaften und Defizite: Man dokumentiert systematisch Bewegungsabläufe, Krankheiten oder die Eigenheiten diverser Völker. Für Wissenschaft und Medizin, aber auch dubiose anthropologische Theorien, die in krude Rassenlehren münden werden.
All diese Aspekte werden in der Ausstellung reich bebildert, aber nur inhaltlich nur angetippt. Anstelle arg knapper Erläuterungs-Texte würde man sich ein paar Schwerpunkte wünschen, in denen erklärt wird, wie die jeweiligen Aufnahmen entstanden und wozu genau sie verwendet wurden. Doch davor kapitulierten schon die Zensoren vor 100 Jahren: Da bleibt nur schaulustvolles Eintauchen in die Bilderflut.