
Die Legende vom Siegeszug der klassischen Moderne lautet seit langem: vom Impressionismus über Kubismus und Expressionismus zur Abstraktion. Was nicht in dieses Schema des kunsthistorischen mainstream passt, gerät ins Abseits. So auch die Gruppe der „Nabis“ (hebräisch für „Seher“ oder „Propheten“) in Paris; sie entwickelten im Jahrzehnt ab 1890 eine ganz eigenständige Kunstauffassung.
Info
Magie des Augenblicks: Van Gogh, Cézanne, Bonnard, Vallotton, Matisse - Meisterwerke aus der Sammlung Arthur und Hedy Hahnloser-Bühler
12.03.2016 - 11.09.2016
täglich außer mittwochs
10 bis 18 Uhr
im Kunstmuseum Moritzburg, Friedemann-Bach-Platz 5, Halle/ Saale
Katalog 18 €
Aufbruch Flora – Meisterwerke aus der Sammlung Arthur und Hedy Hahnloser-Bühler
03.02.2017 - 18.06.2017
täglich außer montags
10 bis 18 Uhr,
donnerstags bis 20 Uhr
in der Staatsgalerie,
Konrad-Adenauer-Str. 30-32, Stuttgart
Ausstellungen 2013 eingestellt
Gezeigt werden rund 160 Exponate – Gemälde, Aquarelle, Grafik und Bronze-Skulpturen – aus der Sammlung Hahnloser-Bühler; das Ehepaar Arthur und Hedy trug sie im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts im schweizerischen Winterthur zusammen. Da beide mit mehreren Nabis-Mitgliedern befreundet waren, konnten sie deren Schaffen umfassend samt Vorbildern und Umkreis dokumentieren. Im früheren Wohnsitz Villa Flora wurde die Kollektion seit 1995 öffentlich präsentiert – bis die Stadt Winterthur 2013 den Geldhahn zudrehte. Derzeit gibt es in der Villa keine Ausstellungen.
Tour d´horizon durch Kunstszene 1900
Wovon das deutsche Publikum profitiert: Es lernt diese hochkarätigen Werke kennen, ohne in die Schweiz reisen zu müssen. An jeder Station wird die Schau um hauseigene Beiträge ergänzt, doch der Hahnloser-Bühler-Kernbestand bleibt gleich. Nach ein paar Glanzstücken der Vorbilder Paul Cézanne, Vincent van Gogh und des Symbolisten Odilon Redon folgen zahlreiche Werke der bedeutenden Nabis-Maler Bonnard, Vallotton und Vuillard.
Dazu kommen mehrere Arbeiten von Maurice Denis und Kerr-Xavier Roussel, des Bildhauers Aristide Maillol und des Grafikers Henri Toulouse-Lautrec, der den Nabis nahe stand. Ergänzt um einige Bilder der Fauvisten Henri Matisse, Henri Manguin und Albert Marquet: eine spannende tour d´horizon zu Vertretern der Pariser Kunstszene um 1900, die – bis auf Matisse und Toulouse-Lautrec – heute zu Unrecht selten Beachtung finden.
Animierte Meisterwerke der Ausstellung; © Kunstmuseum Moritzburg
Rückzug ins Private
Der Nabis-Gruppe fehlte ein leicht erkennbares Markenzeichen. Sie wandte sich gegen die Fixierung der Impressionisten auf Sinneseindrücke und wollte – ähnlich wie die Symbolisten – Stimmungen, Ideen und Gefühlen Ausdruck verleihen; die sind naturgemäß individuell. Dazu bedienten sie sich einer Vielzahl von Einflüssen: etwa der dezentrierten Perspektiven und flächigen, angeschnittenen Motiven in japanischen Farbholzschnitten. Der Japonismus im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts hatte schon Cézanne und Van Gogh stark geprägt.
Die Nabis lasen hermetische Gedichte von Stéphane Mallarmé und symbolistische Dramen von Maurice Maeterlinck; sie griffen auch Errungenschaften des Impressionismus und florale Formen des Art Nouveau auf – jeder Künstler auf seine persönliche Weise. Anstelle ausladender Ölschinken mit Szenen aus dem öffentlichen Leben bevorzugten sie kleinformatige Momentaufnahmen des Alltags in Haus und Garten. Die luden sie durch überraschende Ansichten in gebrochenen Farben mit Bedeutung auf.
Mit geordneten Farben bedeckte Fläche
„Es gilt ins Gedächtnis zu rufen: Ein Bild ist – bevor es ein Schlachtpferd, eine nackte Frau oder irgendeine Anekdote darstellt – vor allen Dingen eine plane Fläche, die in einer bestimmten Ordnung mit Farben bedeckt ist“: Diese viel zitierte Definition des Nabis-Theoretikers Maurice Denis von 1890 war kein Appell, abstrakt zu malen, sondern ein Aufruf, das repertoire möglicher Stilmittel zu erweitern – also für eine autonome Kunst ohne Repräsentations-Pflichten.
Damit begannen die Nabis-Künstler im unmittelbaren Umfeld. Wie Félix Vallotton (1865-1925): Er malte seine regungslosen, in sich gekehrten Modelle mit stumpfen Pastelltönen in unbestimmten intérieurs. Seine See- und Park-Landschaften erscheinen wie Schnappschüsse voller subtiler Grün-Abstufungen; seine Holzschnitt-Serie „Intimités“ reduziert die Figuren auf klare Schwarzweiß-Umrisslinien.
Machohafte Mulattin sitzt auf Bett
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Monet, Gauguin, van Gogh … Inspiration Japan" mit Werken der Nabis-Maler im Museum Folkwang, Essen
und hier eine Besprechung der Ausstellung "1912 – Mission Moderne", eine Rekonstruktion der Jahrhundertschau des Sonderbundes mit Werken von Cézanne + Van Gogh im Wallraf-Richartz-Museum, Köln
und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Esprit Montmartre. Die Bohème in Paris um 1900" mit Werken von Toulouse-Lautrec + Art Nouveau in der Schirn, Frankfurt am Main
und hier einen Bericht über die Ausstellung "Schönheit und Geheimnis" über den deutschen Symbolismus als andere Moderne in der Kunsthalle Bielefeld.
Diese Konstellation kehrt das damalige Verhältnis zwischen Europäern und Afrikanern um, als die Kolonialherren alle Eingeborenen als Verfügungsmasse und Lustobjekte betrachteten. Ähnlich experimentierfreudig griff Édouard Vuillard (1868-1940) häusliche sujets auf. In seinen Gemälden löste er die Binnenstrukturen von Personen und Gegenständen fast bis zur Unkenntlichkeit auf; in seinen Lithographien ließ er bewegte Muster und schreiende Farbkontraste aufeinander prallen.
In Marcel Prousts verlorener Zeit
Etwas konventioneller geht es auf Bildern von Pierre Bonnard (1967-1947) zu – doch auch sie verstören mit wilder Linienführung und kühnen Blickwinkeln für eher banale Motive. Es ist die Welt des saturierten Großbürgertums im fin de siècle, die hier dargestellt wird: mit seinen täglichen Ritualen und seiner Empfindsamkeit, obsessiven Selbstbeschäftigung und unterschwelligen Furcht, der behagliche Stillstand könne plötzlich verschwinden. Was Marcel Proust in seinem Riesenroman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ so minutiös beschrieben hat, brachten die Nabis-Künstler auf Leinwand und Papier.
Leider ignoriert die Ausstellung den kunsthistorischen Kontext weitgehend. Nach Künstler-Gruppen angeordnet, werden sie und ihre wichtigsten Stilmerkmale nur mit wenigen Zeilen vorgestellt. Stattdessen feiern Wandtexte und Katalog ausführlich das Sammler-Ehepaar und seine Lebensleistung – was außerhalb von Winterthur nur wenige Kunstfreunde interessieren dürfte. Gleichviel: Die Zusammenstellung der in Deutschland selten gezeigten Nabis-Maler ist derart erstklassig, dass man diesen magischen Augenblick nicht verpassen sollte.