
Endlich wieder einmal ein Netzwerk nicht im technischen Sinne, sondern im amourösen: Verleger Alain (Guillaume Canet) ist mit der Schauspielerin Selena (Juliette Binoche) verheiratet, geht aber mit Laure (Christa Théret) ins Bett, der jungen Digital-Beauftragten des Verlags. Selena hat eine Affäre mit dem Autor Léonard (Vincent Macaigne), dessen Bücher von Alain publiziert werden. Zudem sind Léonard und Valérie (Nora Hamzawi) ein Paar; die völlig überlastete Spitzenpolitiker-Assistentin bleibt als einzige in diesem Quintett ungeküsst.
Info
Zwischen den Zeilen (Doubles Vies)
Regie: Olivier Assayas
107 Min., Frankreich 2018;
mit: Juliette Binoche, Guillaume Canet, Vincent Macaigne
Fellatio im Kino
Dabei bleiben die Konflikte zeitlos: Selena ist ein Fernsehstar – doch ihre Rolle in einer beliebten Action-Serie ist ihr zu klischeelastig; sie strebt nach Höherem. Alain lehnt Léonards neuestes Manuskript ab, weil er zu offensichtlich sein eigenes Liebesleben literarisch ausschlachtet – unter anderem in einer Fellatio-Szene mit Selena, die sich im Kino zutrug. Alain will mit attraktiven Aufgaben Laure an sich und seinen Verlag binden, doch die sieht ihn nur als Karriere-Sprungbrett. Derweil ist Valérie beruflich so eingespannt, dass sie ansonsten nichts mitbekommt.
Offizieller Filmtrailer
Virales Marketing auf der Bettkante
Dennoch könnte die Konstellation prickelnd wirken, würden sich die Protagonisten mehr um ihr Liebesleben kümmern – sie interessieren sich aber nur für ihre Jobs. Noch auf der Bettkante diskutieren Alain und Laure über Ebook-Verkäufe und virales Marketing via Facebook oder Twitter.
Léonard muss sich bei Lesungen und Radio-Interviews wortreich gegen Vorwürfe wehren, seine Autofiktions-Romane würden seine Ex-Partnerinnen bloßstellen. Ohnehin fragt sich, was die sinnliche Selena an diesem neurotischen Vollbart-Zausel finden soll – das Skript dichtet beiden eine sechsjährige Beziehung an.
Lustlose Bettgeschichten
Die sie dann mal eben an der Bistro-Bar beendet, zwischen Espresso und Orangensaft; genug sei genug. Ähnlich leidenschaftslos gehen alle Figuren mit ihren Gefühlsregungen um – passioniert und laut werden sie am ehesten, wenn es um die Zukunft der Verlagsbranche, ihren nächsten TV-Auftritt oder die Frage geht, ob beim Kino-Fellatio auf der Leinwand „Star Wars“ oder „Das weiße Band“ von Michael Haneke lief. Im Cannes-Sieger von 2009 ging es um Gewalt gegen und Missbrauch von Kindern.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Personal Shopper" - Mystery-Thriller von Olivier Assayas
und hier einen Bericht über den Film "Die Wolken von Sils Maria" - vielschichtiges Schauspielerinnen-Drama mit Juliette Binoche von Olivier Assayas
und hier ein Interview mit Olivier Assayas über den Film "Die Wolken von Sils Maria": "Juliette rannte nackt ins Wasser"
und hier einen Beitrag über den Film "Die wilde Zeit – Après mai" - brillante Kollektiv-Biographie der französischen Jugend in den frühen 1970er Jahren von Olivier Assayas.
Kein Doppelleben auf Motorroller
Da ist Frankreich als Heimat von Marquis de Sade und Catherine Millet stärkeren Tobak gewöhnt: Selbst Staatspräsidenten gesteht man großzügig amouröses Doppelleben zu, sofern sie es nicht wie François Hollande auf dem Motorroller ausleben.
Optimistischer wäre die Deutung, dass dieser Libidoverlust weniger die Pariser Intellektuellen-Szene als vielmehr den Regisseur betrifft. Assayas hat nacheinander drei brillante zeithistorische Analysen gedreht, vom Terroristen-Porträt „Carlos – Der Schakal“ (2010) über „Die wilde Zeit – Après mai“ (2013) über die Desillusionierung nach dem Mai 1968 bis zu „Die Wolken von Sils Maria“ (2014), einem facettenreichen Vergleich von europäischer Hochkultur mit US-Entertainment. Doch sein anschließender Ausflug ins Okkulte, der Mystery-Thriller „Personal Shopper“ (2016), ging peinlich daneben.
Als nächstes Amour fou
Kein Fingerspitzengefühl fürs Esoterische, und ebenso wenig fürs Erotische: „Zwischen den Zeilen“ räsoniert passabel über Technik, Gesellschaft und Literaturbetrieb, aber windet sich bemüht um alle Herzens- und Unterleibs-Angelegenheiten herum. Vielleicht sollte sich Assayas vor seinem nächsten Sittengemälde eine wilde und nervenaufreibende Amour fou gönnen.