
Frankreich im Sommer: Die Schule plätschert ihrem endgültigen Ende entgegen, Jungs tragen die Haare lang, Mädchen noch länger, und Revolution liegt in der Luft. Es ist der Sommer 1971.
Info
Die wilde Zeit –
Après mai
Regie: Olivier Assayas
122 Min., Frankreich 2012
mit: Clément Métayer, Lola Creton, Carole Combes
Statt Jahrzehnten wenige Monate
Während er in «Carlos – Der Schakal» drei Jahrzehnte linker Politik abarbeitete, beschränkt sich «Die Wilde Zeit» auf einen knappen Zeitraum von wenigen Monaten, eine Gruppe von einer Handvoll Personen und räumlich zunächst auf eine französische Kleinstadt.
Offizieller Filmtrailer
Soft Machine + Syd Barrett
Im Mittelpunkt steht Gilles (Clément Métayer), ein hübscher Junge, der mit dem Moped die Stationen seines letzten Schuljahres abfährt: Die Schule, ein kurzer Besuch zuhause, eine politische Zusammenkunft, ein Treffen mit der Freundin, eine Druckerei usw.
Mit dokumentarischem Interesse folgt die Kamera ihm bei alltäglichen Verrichtungen: Er malt, er hört Musik von «Soft Machine» und des Pink-Floyd-Gründers Syd Barrett, bei Diskussionen hält er sich zurück. Seine Freundin will nach London und sich nicht fest binden. Es gibt eine Demonstration, Tränengas und Verfolgungsjagden durch die Gassen der Kleinstadt.
Ausstattung und Soundtrack sprechen für sich
Als die Schüler Polit-Parolen auf die Schulwand malen, kommt es zur Konfrontation mit dem Wachschutz, die übel endet. Die Beteiligten, darunter auch Gilles, wollen die Stadt verlassen, bis Gras über die Sache gewachsen ist. Gilles schließt sich einer Gruppe linker Filmemacher an, die in italienischen Fabriken agitieren wollen.
Das inszeniert Regisseur Assayas ähnlich nüchtern wie «Carlos»: Ohne Akzentuierungen und Übertreibungen, die Kamera, Licht und Tricktechnik erlauben. Er verzichtet auf Symbolik und lässt stattdessen die Ausstattung und den Soundtrack für sich sprechen. Und die Charaktere: Mal linkisch, mal mit mühsam gespielter Reife, mal stürmisch, meist aber unbeholfen – eben wie Jugendliche, die alle Schritte ins Erwachsenwerden zum ersten Mal gehen.
Was ist Arbeiterkino?
Dabei lässt er politischen Debatten, die immer wieder geführt werden, so viel Raum wie außer ihm wohl nur Ken Loach, der große Sozialkritiker des britischen Autorenfilms. Zu Fragen, in denen sich Ästhetik und Politik immer wieder reiben: Was ist Arbeiterkino?
Filme bürgerlicher Regisseure für ein Arbeiter-Publikum, oder müssten die Arbeiter nicht die Produktionsmittel übernehmen? Eine Episode mit Gilles´ Vater verläuft ebenso unspektakulär wie aufschlussreich; sie mündet in Gilles´ Entschluss, eine Ausbildung in Londoner Filmstudios zu beginnen.
Autobiographisches Spiel mit Erinnerungen
Der Film spielt vor allem mit Erinnerungen: medialen Erinnerungen an eine «Wilde Zeit», persönlichen Erfahrungen der Zuschauer, und nicht zuletzt denen des Regisseurs: Das Drehbuch basiert auf seinem autobiografischen Buch «Une adolescence dans l’après-Mai. Lettre à Alice Debord» («Eine Jugend nach dem Mai `68. Brief an Alice Debord»).
Hintergrund
Weitere Rezensionen finden Sie in der Presseschau bei Film-Zeit
Lesen Sie hier einen kultiversum-Beitrag "Carlos - Der Schakal " von Olivier Assayas über linksradikalen Terrorismus der 1970er Jahre
und hier eine Besprechung des Films "Das Wochenende" - subtiles Kammerspiel über ein Ex-RAF-Mitglied von Nina Grosse
und hier einen Bericht über den Film "Quellen des Lebens" von Oskar Roehler über seine Familie in den 1970er Jahren.
Distanz erzeugt Sog
Obwohl der Blickwinkel dem seiner Protagonisten entspricht – Abwesenheit der Eltern, Sprachlosigkeit in bestimmten Situationen – hält Assayas immer Abstand. Manchmal scheint er sich selbst über seinen Helden zu wundern, folgt eine Weile anderen Jugendlichen und schaut ihnen mit unendlicher Neugier zu, ohne zu denunzieren oder zu urteilen.
Seine Distanz überträgt sich auf den Zuschauer; man möchte die Darsteller zuweilen packen und ordentlich durchschütteln. Doch der Film entwickelt auf diese Weise allmählich auch einen Sog, der «Carlos» am Ende fehlte. Er schafft eindrucksvolle, unperfekte, aber wohlüberlegte Bilder, die sich langsam einbrennen und nur sehr langsam verblassen – so wie Farbfotos aus den 1970er Jahren.