Was ist eigentlich aus der Digitalkunst geworden? Vor rund zehn Jahren galten Werke, die im Internet erstellt und präsentiert wurden, als der letzte Schrei: Kaum eine Ausstellung von Gegenwartskunst kam ohne klobige Monitore aus, auf denen die Besucher interaktiv irgendwelche virtuellen Welten erkunden sollten. Was allerdings kaum jemand tat: Die meist komplexen Arbeiten waren für flüchtigen Kunstkonsum ungeeignet und ihre Benutzeroberflächen oft suboptimal – jedes Videospiel sieht wesentlich attraktiver aus.
Info
Ryoji Ikeda:
data-verse 1 + 2
07.12.2019 - 29.03.2020
täglich außer montags
11 bis 18 Uhr
im Kunstmuseum Wolfsburg, Hollerplatz 1
Energiewellen durchströmen Organismen
In früheren Arbeiten, etwa der 2015 im Karlsruher ZKM gezeigten „micro|macro“, visualisierte Ikeda beispielsweise die unsichtbaren Energiewellen, die allzeit jeden Organismus durchströmen. Für die Trilogie „data-verse“, deren erster Teil auf der Biennale in Venedig vorgestellt wurde, verfolgt er einen denkbar umfassenden Ansatz: die Ähnlichkeiten universeller Strukturen deutlich zu machen, von der subatomaren Ebene bis zum Aufbau ganzer Galaxien.
Feature von der Biennale in Venedig. © MM Artlike
Live-Illusion durch Radar-Lichtbänder
In der zentralen Ausstellungshalle des Kunstmuseums Wolfsburg sind Teil 1 und 2 von „data-verse“ zu sehen: als wandfüllende Projektionen im rechten Winkel. Beide Teile folgen derselben Logik, aber mit verschiedenen Bildsequenzen. Sie beginnen mit dem Teilchenzoo, aus dem sich Atomkerne zusammensetzen: Auf dunkler Leinwand erscheinen, dem Urknall gleich, unzählige Lichtpunkte, die mit Vektorenlinien oder Strichcodes verbunden sind. Bald wechselt die Projektion zu Molekül-Modellen, die versierte Chemiker leicht benennen könnten.
Ein cleverer Kunstgriff von Ikeda ist, schmale Lichtbänder zu verwenden, die über die Fläche wandern und hinter sich das Bild erzeugen – ähnlich einem Radargerät. Dadurch vermittelt er dem Zuschauer die Illusion, er sei bei der Entstehung dieser Momentaufnahmen live dabei; obwohl es sich nur um aufwändig erstellte Computergrafiken handelt, die angezeigt und sparsam mit technoiden Klängen unterlegt werden.
Wechselkurse + Mondkrater
Aus der Mikro- schreitet die rund zehnminütige Projektion rasch in die Menschenwelt fort. Lichtlinien zeichnen Infrastruktur-Leitungen und Verkehrsflüsse in Weltstädten nach; Globetrotter und Kosmopoliten mögen die Stadtpläne von London, Paris, New York und anderer Metropolen erkennen. Sie sind heutzutage durch mehr Flugverbindungen verknüpft als je zuvor; die erscheinen auf der Erdoberfläche als Strahlenbündel, die wie Fontänen in alle Himmelsrichtungen auseinanderjagen.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Globale: Ryoji Ikeda: micro|macro" - faszinierende Immersions-Projektion im ZKM, Karlsruhe
und hier eine Besprechung der Ausstellung "Micro Era – Medienkunst aus China" - Überblicksschau im Kulturforum, Berlin
und hier einen Beitrag über das Digitalkunst-Festival "Transmediale 2015 – Capture All" im Haus der Kulturen der Welt, Berlin
und hier einen Bericht über die Ausstellung "Logical Emotion – Zeitgenössische Kunst aus Japan" mit Werken von 13 Künstlern im Kunstmuseum Moritzburg, Halle/ Saale.
Solar-Chaos in Realfarben
Beim Sprung zur Sonne riskiert Ikeda einen ästhetischen Bruch: Aufnahmen ihrer Protuberanzen wurden nicht in Digitaldaten umgewandelt, sondern zeigen chaotische Umwandlungsprozesse bei extrem heißen Temperaturen in quasi realen Farben. Der Endpunkt dieser visuellen Achterbahnfahrt fällt dann wieder astronomisch kühl aus: Ansichten der Milchstraße ähneln mit ihrer Verteilung kleinster Lichtpunkte dem subatomaren Anfang von „data-verse“.
Dabei beabsichtigt der Künstler kein Ratespiel; man muss und soll nicht jede Struktur erkennen, die am Auge vorbeizieht. Es geht ihm offensichtlich darum, ihre Analogien zu veranschaulichen: Naturgesetze gelten auf allen Ebenen und formen sie daher – die vom Menschen geschaffenen, vom Straßennetz bis zum Börsenzettel, bilden keine Ausnahme. Alles hängt mit Allem zusammen; das ist keine neue Einsicht. Doch sie wurde vielleicht noch nie so überwältigend veranschaulicht wie von Ryoji Ikeda.