Venedig

59. Biennale Venedig: The Milk of Dreams

Länder-Pavillon Österreich: Jakob Lena Knebl und Ashley Hans Scheirl. Foto: Elke Linda Buchholz
Alles wuchert, wabert und wandelt sich unaufhörlich: Die Mega-Ausstellung in der Lagunenstadt feiert die Fantasie, Mythen und das Irrationale. Kuratorin Cecilia Alemani reagiert auf das von Corona erschütterte Körperbewusstsein – sie lässt Tiere und Pflanzen mit Menschenleibern verschmelzen.

Diese Biennale stellt große Fragen und polarisiert. Den einen ist die wild wuchernde Großausstellung zu irrational, zu traumverloren und mythenverliebt; die andere feiern sie als starkes Statement mit viel Frauenpower. Mehr als 1500 Werke hat die italienische Kuratorin Cecilia Alemani ausgesucht. Dazu kommen 80 Nationen-Pavillons in jeweils eigener Regie, plus allerlei flankierende Events. Eine Stippvisite dauert mindestens zwei Tage. Was gibt’s zu sehen? Hier ein unsystematischer Überblick.

 

Info

 

59. Biennale Venedig:
The Milk of Dreams

 

23.04.2022 - 27.11.2022

täglich außer montags

11 bis 19 Uhr

in den Giardini + Arsenale, Venedig

 

Weitere Informationen

 

Am Kai vor den Giardini der 1895 gegründeten Biennale ist ein italienisches Kriegsschiff vor Anker gegangen. Dafür fehlten diesmal die Luxusjachten der Oligarchen zur Eröffnung. Die 59. Kunstbiennale wurde pandemiebedingt um ein Jahr verschoben. Dass Covid-19 das Körperbewusstsein erschütterte und alles Verlässliche infrage stellte, hat das Konzept der Kuratorin geprägt. Alemani fragt: Was ist der Mensch? Was hat er gemeinsam mit Pflanzen, Robotern oder dem unbelebten Kosmos? Was passiert, wenn alle rationalen Gewissheiten ausgehebelt sind? Nun überlagert der Ukrainekrieg die Wahrnehmung.

 

Kampfjets atmen wie Urzeitriesen

 

Überall in der Lagunenstadt haben sich „Eventi Collaterali“ eingenistet. In einer kleinen Kirche unweit der Giardini blähen sich aufblasbare Kampfjets, laut atmend wie Urzeitriesen: in einer beklemmenden Videoinstallation der britischen Künstlerin Fiona Banner. Die Worte „We are Defending our Freedom“ in der Handschrift des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj prangen auf blaugelben Riesenfahnen an der Scuola della Misericordia.

Statement von Kuratorin Cecilia Alemani + Impressionen der Kunstausstellung, © Biennale Channel


 

Überall flattern Schmetterlinge

 

In dem prachtvoll maroden Renaissanceklotz hat man für die Ukraine hastig eine Sonderschau zusammengestellt, organisiert vom Kiewer Milliardär und Sammler Wiktor Pintschuk. Auf monumentalen Gemälden stehen ukrainische Freiwillige stramm, eine Hundertschaft Mütter trauert auf Fotoporträts: mit dem Krieg kehren überwunden geglaubte Rollenbilder zurück. Im Obergeschoss hat der einstige „Young British Artist“ Damien Hirst eine blaugelbe Leinwand mit farblich passenden Schmetterlingen beklebt. Sie sind echt, aber tot.

 

Allenthalben flattern solche zarten Falter durch diese Biennale. Man trifft auf sie in einem flugs gepflanzten Dschungel, ganz hinten im Arsenale, oder zart gepinselt auf neosurrealen Gemälden. Die schillernden Insekten sind ein uraltes Symbol der Unsterblichkeit und der Metamorphose. Im quecksilbrigem Fahrwasser der Surrealisten navigiert auch Kuratorin Alemani. Ihr Biennale-Motto „Il Latte dei Sogni“, die „Milch der Träume“, hat sie einem illustrierten Kinderbuch von Leonora Carrington aus den 1950ern entnommen.

 

Goldener Löwe für grünen Elefanten

 

Ihre Werke werden auch in einer großen Surrealismus-Schau bis Ende September in der Peggy Guggenheim Collection gezeigt; Carrington hatte die Grenzen des Rationalen ausgelotet und Erfahrungen mit der Psychiatrie gesammelt. Die Hinwendung der Surrealisten zum Irrationalen war nach dem Horror zweier Weltkriege Ausdruck von Traumabewältigung und Hoffnung auf Erneuerung. Wird dieses Andocken an verdrängte Triebkräfte jetzt wieder gebraucht?

 

Im Foyer der Hauptausstellung steht unübersehbar ein grüner Riesenelefant im Raum. Der kapitale Dickhäuter lässt an die bekannte Redewendung für unausgesprochene Probleme denken. Er ist der Beitrag von Katharina Fritsch; die deutsche Bildhauerin bekam für ihr Lebenswerk den Goldenen Löwen. Doch im weiteren Verlauf übernimmt die Fantasie das Erscheinungsbild. Alles wuchert, wabert und wandelt sich unablässig. Tiere und Pflanzen verschmelzen mit Menschenleibern.

 

Praller Stoffsack als sechsbrüstiges Bunny

 

Technoide Avatare lässt die rumänische Bildhauerin Andra Ursuta in Kristallglas erstarren; auch auf Leinwänden entfaltet sich hemmungslos die Einbildungskraft. Als prall gefüllter, plumper Stoffsack räkelt sich, wie einst Venus, ein sechsbrüstiges Bunny der kanadischen Künstlerin Gabrielle L´Hirondelle Hill: ein derangiertes Zerrbild gängiger Männerfantasien. Eine Domina plaudert derweil im Videoclip über ihren Job als Sexarbeiterin – das ist noch der nüchternste Beitrag in diesem Labyrinth der Triebe.

 

Allenthalben werden verborgene Konflikte angesprochen, seien sie postkolonial oder genderbedingt. Das fordert dem Betrachter einiges ab, auch an intellektueller Flexibilität. Hinreißend düster ist ein nachtschwarzer Raum für meisterliche Figurenbilder der portugiesischen Malerin Paula Rego; sie präsentiert abgründige Remakes von Goya und Kafka bis Pinocchio. Hier verschlingt eine dicke Dame ihre Babys mit unstillbarem Appetit, wie einst der antike Gott Chronos. Zartere Phantasiegebilde drehen sich bei Cecilia Vicuña im Windhauch wie Erinnerungsfetzen; sie fischte Schwebstoff-Müll aus der Lagune für ihr Ökologie-Plädoyer. Die Chilenin erhielt ebenfalls einen Goldenen Löwen.

 

Pflanzen sprießen aus Keramikbrüsten

 

Inmitten der überbordenden Bilderflut bieten drei „Zeitkapseln“ Halt. Es sind museale Tiefenlotungen zu Schlüsselthemen, jede ein Kleinod. Auf goldenem Teppich sind etwa surrealistische Werke von Frauen versammelt: von Leonor Fini bis Remedios Varo und Carrington. In den lang gestreckten, ehemaligen Seilerei-Hallen des Arsenale, der mittelalterlichen Schiffswerft, ergießt sich die „Milch der Träume“ über viele hundert Meter weiter. Vorbei an aufgeblähtem Kitsch wie an großartigen Werken. Aus Keramikbrüsten sprießen echte Pflanzen; Alchemie lässt grüßen. Überall plätschert es, alles will sich verflüssigen und starre Grenzen aufweichen. Als antikolonialistischen Schlussakkord hat die US-nigerianische Künstlerin Precious Okoyomon einen verzauberten Dschungel aus Zuckerrohr und Weinranken in den letzten Raum gepflanzt.

 

So interessant und vielschichtig die kuratierte Ausstellung ist: Für viele Besucher finden sich die bemerkenswertesten Beiträge zur Biennale in den Länderpavillons. Das Schaulaufen der Nationen – oft als unzeitgemäß geschmäht – bleibt Alleinstellungsmerkmal der ältesten aller Kunst-Biennalen. Jedes Land entscheidet Jahr für Jahr selbst, wen es ins Rennen schickt. Erstmals mit von der Partie sind diesmal Kamerun, Namibia und Nepal.

 

US-Kunsttempel als Afro-Hütte

 

Da aber längst nicht alle Nationen in die Biennale-Giardini passen, die teilnehmen wollen, richten viele ihre Dependancen irgendwo in der Lagunenstadt ein. Die Niederlande haben ihren traditionellen Pavillon diesmal Estland überlassen und nehmen mit einer abgelegenen Kirche vorlieb. Vor dem ehemaligen Altar lümmelt man gemütlich auf rosa Plüschpolstern, während auf der Leinwand berührungsfreudige, ekstatische Körperarbeit queerer junger Menschen zu sehen ist. Soll heilsam wirken.

 

Zurück in die Giardini: Der neoklassizistische Kunsttempel der USA ist nicht wiederzuerkennen. Simone Leigh hat den marmorweißen Bau in eine überdimensionale Eingeborenen-Strohdachhütte verwandelt. Genauso sahen die Afro-Hütten auf der Pariser Kolonialausstellung 1931 aus. Aber hier mitsamt riesiger Bronzeskulpturen mächtiger schwarzer Frauengestalten: ein bitterböser Mummenschanz und selbstbewusstes Statement des Black America aus weiblicher Sicht.

 

Mal wieder deutsche Vergangenheitsbewältigung

 

Oben auf dem ansteigenden Giardini-Gelände thronen die Pavillons von Frankreich, Deutschland und Großbritannien. Ihr Auftritt könnte nicht unterschiedlicher sein. Die Deutschen treiben mal wieder Vergangenheitsbewältigung, und zwar gründlich. Als hätten sich nicht schon etliche Vorgänger an dem Bau abgearbeitet, den die Nazis 1938 klotzig erweiterten, legt Konzeptkünstlerin Maria Eichhorn die Tiefenschichten seiner Architektur frei. Roh klaffendes Ziegelwerk macht Veränderungsspuren sichtbar; die Fundamente sind bloßgelegt wie Eingeweide. Kaum jemanden scheint das zu fesseln. Der Pavillon ruht still und fast verwaist.

 

Die Briten hingegen bieten einen klingenden, singenden Pavillon: Vier schwarze Sängerinnen füllen die Säle stimmgewaltig mit befreiender Energie. Im Schlussraum improvisieren sie a cappella „I am free“ oder grollen wie Löwinnen. Die Künstlerin Sonia Boyce hat ein Archiv mit Aufnahmen von Hunderten schwarzer Musikerinnen zusammengetragen: auch das ein Stück Geschichte, wieder ins Bewusstsein gehoben und sichtbar gemacht.

 

Roma-Wandteppiche im Polen-Pavillon

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Architektur-Biennale 2014, kuratiert von Rem Koolhaas, in Venedig

 

und hier eine Rezension der "55. Biennale Venedig" - Internationale Kunstausstellung in Venedig

 

und hier einen Bericht über die  "Länderpavillons der 55. Biennale" - Rundgang über die Internationale Kunstausstellung in Venedig

 

und hier einen Beitrag über die "Architektur-Biennale 2012", kuratiert von David Chipperfield, in Venedig.

 

In eine Traumfabrik verwandelt sich der französische Pavillon: ein Augenschmaus für Cineasten. Beim Eintreten findet man sich auf dem Tanzparkett des Films „Le Bal“ wieder, den der italienische Regisseur Ettore Scola 1983 drehte. Nebenan stapeln sich alte Filmrollen, der betagte Schneidetisch rattert, Scheinwerfer beleuchten dieses Szenenbild. Die algerischstämmige Künstlerin Zineb Sedira schleust ihr Publikum mitten hinein in ihre Lieblingsfilme und verschollene Ko-Produktionen von Frankreich und Italien mit Algerien. Im nostalgisch ausgestatteten Lichtspielsaal nimmt man auf Holzklappsitzen Platz.

 

Herrlich durchgeknallt gibt sich der Pavillon von Österreich mit einem psychedelisch-surrealen Pop-Mix der Künstler Jakob Lena Knebl und Ashley Hans Scheirl; schon ihre Namen durchquirlen und schreddern munter geschlechtsspezifische Zuschreibungen. Andernorts vermisst diese erzählfreudige Biennale bislang unberücksichtigtes Kulturterrain. Im polnischen Pavillon sind etwa bildgewaltige, von Renaissancefresken inspirierte Wandteppiche der Romni-Künstlerin Malgorzata Mirga-Tas zu sehen.

 

Zentauren-Suizid im Dänen-Pavillon

 

Eine weitere Premiere ist im Nordischen Pavillon zu besichtigen: Ihn hat die indigene Minderheit der Sami erobert. Es riecht nach Rentierhäuten, während ein kämpferischer Gemäldezyklus von einem halben Jahrhundert Selbstbehauptungskampf gegen die Staatsmacht berichtet. Aktivismus oder Kunst? Junge Sami in ihrer Tracht stehen bereit, alles näher zu erklären.

 

Der Preis für den kitschigsten Pavillon gebührt nebenan Dänemark: Dieser Bau dient als Zentaurenstall. Das ausgestopfte Tier hat sich am Deckenbalken erhängt. Droht allen mythischen Wesen der Tod? Mitnichten: Auf dieser Biennale erweisen sich Mythen, Fantasien, irrlichternde und widersinnige Wahrheiten des Unbewussten als quicklebendiger denn je. Die „Milch der Träume“ wird reichlich ausgeschenkt.