Dresden + Wiesbaden

Weltflucht und Moderne – Oskar Zwintscher in der Kunst um 1900

Oskar Zwintscher: Gram (Detail), 1898, Öl auf Leinwand, 150,5 x 150,2 cm, Städtische Galerie Dresden . © Museen der Stadt Dresden, Foto: Franz Zadniček
Ein sächsischer Gustav Klimt, mit Betonung auf sächsisch: Das Albertinum will den Maler Oskar Zwintscher als Star-Künstler der Zeit um 1900 rehabilitieren. Was nur bedingt überzeugt: Der handwerklich hervorragende Porträtist schuf ansonsten eher unoriginell überladene Werke.

Ein Lokalheld wird wieder entdeckt – und sogleich in den Parnass erhoben: Hilke Wagner, Direktorin des Dresdener Albertinum, schwärmt von Oskar Zwintscher (1870-1916) als „unserem sächsischen (Gustav) Klimt“. Solche Vergleiche sind mit Vorsicht zu genießen, weil sie zugleich ihre regional begrenzte Geltung hervorheben. Auch die Rede vom Elb-Florenz oder Spree-Athen verdeutlicht vor allem den Abstand zwischen mediterranen und deutschen Kunst-Metropolen.

 

Info

 

Weltflucht und Moderne – Oskar Zwintscher in der Kunst um 1900

 

14.05.2022 - 15.01.2023

täglich außer montags 10 bis 18 Uhr

im Albertinum, Tzschirnerplatz 2, Dresden

 

Katalog 42 €

 

Weitere Informationen zur Ausstellung

 

03.03.2023 - 23.07.2023

täglich außer montags 11 bis 18 Uhr,

dienstags + donnerstags bis 19 Uhr

im Museum Wiesbaden, Friedrich-Ebert-Allee 2, Wiesbaden

 

Weitere Informationen zur Ausstellung

 

Natürlich ist nichts daran auszusetzen, dass Dresden Zwintscher würdigt, der hier und im benachbarten Meißen fast sein ganzes Leben verbrachte. Das tun Leipzig mit Max Klinger, Hamburg und Oldenburg mit Horst Janssen oder Düsseldorf und Köln mit Gerhard Richter auch. Dennoch verwundert der Aplomb, mit dem die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden (SKD) ihre Wiederentdeckung Zwintschers als Großtat feiern: mit der ersten Werkschau seit 1982 und der größten seit seinem Todesjahr 1916.

 

Aufwertung der SKD-Sammlungen

 

Das dürfte an der Herkunft der 125 gezeigten Exponate liegen: Von 75 Werken Zwintschers stammen gut zwei Drittel aus Dresdener Beständen. Allein 39 aus denen SKD; 15 steuert die Städtische Galerie bei. Auch die übrigen 50 Arbeiten anderer Künstler kommen fast ausschließlich aus SKD-Sammlungen. Wenn Generaldirektorin Marion Ackermann betont: „Jetzt wird es darum gehen, ihm wieder im internationalen Kanon seinen Platz zu geben, den er verdient hat“ – dann will sie damit offenbar auch ihre Kollektionen aufwerten.

Feature zur Ausstellung: Staatliche Kunstsammlungen Dresden


 

Einbettung in Stilrichtungen bleibt vage

 

Das gelingt nur bedingt. Dresden ist eben nicht Wien, Prag oder Brüssel; also die Zentren von Symbolismus und Jugendstil um 1900 in Mitteleuropa. Werke dieser Strömungen von Künstlern wie Arnold Böcklin, Ferdinand Hodler oder Franz von Stuck, die in der Schau mit denen von Zwintscher abwechseln, illustrieren meist nur vage, worum es jeweils geht. Bedient man sich aus dem hauseigenen Depot, muss man sich halt mit Vorhandenem begnügen.

 

Nichtsdestoweniger deckt die Schau alle Lebens- und Schaffensphasen von Oskar Zwintscher umfassend ab. Als Sprössling einer Leipziger Musiker-Familie studierte er Malerei in Dresden, ließ sich 1892 in Meißen nieder und hatte ab Mitte der 1890er Jahre Erfolge bei Gruppen- und Einzelausstellungen. Zwintscher reiste nach München und Rügen und lernte in Worpswede Malerkollegen wie Heinrich Vogeler und Paula Modersohn-Becker sowie Rainer Maria Rilke und seine Frau Clara Westhoff-Rilke kennen, die er porträtierte.

 

Experimentierfreude schwindet 1903

 

Derweil verdiente er Geld mit Gebrauchsgrafik, etwa Zeichnungen für „Meggendorfers humoristische Blätter“, Plakat-Entwürfen für „Pelikan-Farben“ oder Sammelkarten-Motiven für „Stollwerck-Schokolade“. 1903 wird der 33-Jährige zum Professor an der Dresdener Kunstakademie berufen; dort bildet er fortan bis zu seinem frühen Tod – er starb vermutlich an der Grippe – in der Malklasse den Nachwuchs aus.

 

Die Aufnahme dieser Lehrtätigkeit markiert einen zwar nicht scharfen, aber doch deutlichen Bruch in seinem Œuvre. Zuvor hatte er einiges ausprobiert: Landschaften in flächiger Jugendstil-Manier und leuchtend satten Farben, bedeutungsschwangere Symbolismus-Szenen, Fremd- und Selbstporträts in variantenreichen Kompositionen und unterschiedlichem Duktus. Diese Experimentierfreude nimmt nach 1903 merklich ab.

 

Schwerter-Sieger als Fall für cancel culture

 

Kein Wunder: Als arrivierter Hochschullehrer materiell abgesichert, beschränkte sich Zwintscher nun vorwiegend auf gefällige Allegorien für öffentliche Gebäude und repräsentative Bildnisse, etwa ein zweieinhalb Meter hohes von „Oberbürgermeister Dr. Beutler“ 1910. Eines seiner spätesten Werke war 1915 der ebenso große „Sieger“, wohl als Vorbild für eine Wandgestaltung: Ein nackter Hüne beschützt mit zwei Schwertern eine treudeutsche Mutter samt Säugling. Wäre der Entwurf zur Ausführung gekommen, wäre das heute gewiss ein Fall für cancel culture.

 

Dabei hatte er wesentlich nuancierter angefangen: Seine Landschaften aus den 1890er Jahren bestechen durch interessante Motivwahl und frisches Kolorit. Auf seinen Ansichten von Meißen scheinen die Ziegeldächer förmlich zu glühen – jedes in einem anderen Rot-Ton. Und die Panoramen von Elbauen samt Sandsteinfelsen überraschen mit verwegenen Perspektiven und lichtdurchfluteten Wäldern und Wiesen – da wird die Aufbruchsstimmung der Wandervogel-Bewegung unmittelbar spürbar.

 

Überladen-schwülstiger Symbolismus

 

Zur gleichen Zeit versuchte sich Zwintscher an einem Symbolismus, der – auch mit Blick auf damals Geläufiges – überladen und schwülstig wirkt. Beim Gemälde „Gram“ (1898) genügt ihm nicht, dass ein Trauernder über einer aschfahlen weiblichen Leiche vom Tod mit einem Wackerstein niedergedrückt wird – das Skelett muss auch noch Adlerkrallen haben. Auf „Zwischen Schmuck und Lied“ (2010) steht eine nackte Frau zwischen einem ebenso nackten Lautenspieler und einem Greis in schwarzer Kutte, der mit Juwelen lockt. Hinter dem Musiker grünt und blüht es, hinter dem Alten ist alles verdorrt. Preisfrage: Wem wird sie sich zuwenden?

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Schönheit und Geheimnis: Der deutsche  Symbolismus – Die andere Moderne "  in der Kunsthalle Bielefeld mit Werken von Oskar Zwintscher 

 

und hier eine Besprechung des Films "Heinrich Vogeler – Aus dem Leben eines Träumers" – originelles Biopic über die Wandlung des Künstlers vom Jugendstil- zum Agitprop-Maler von Marie Noëlle

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "Paula Modersohn-Becker" – umfassende Werkschau in der Schirn Kunsthalle, Frankfurt/Main

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Ferdinand Hodler - Maler der frühen Moderne" – eindrucksvoll inszenierte Retrospektive des Schweizer Nationalkünstlers in der Bundeskunsthalle, Bonn

 

und hier einen Artikel über die Ausstellung "Dem Licht entgegen – Die Künstlerkolonie-Ausstellung 1914" – große Jugendstil-Schau im Institut Mathildenhöhe, Darmstadt.

 

Doch eines durchzieht Zwintschers Schaffen kontinuierlich von seinen Anfängen bis zum Ende: Konterfeis seiner Gattin Adele. Die Frau seines Lebens, die er 1892 kennenlernte und sechs Jahre später heiratete, hat er in zahlreichen Formaten und Momenten festgehalten. Gerade weil sie dabei stets fast die gleiche Miene machte, mit großen starrenden Augen und schmalen Lippen, treten Zwintschers wechselnde Malweisen umso anschaulicher hervor.

 

Origineller Frauenakt von 1909

 

Von der intimen Zeichnung bis zum opulenten Ganzkörper-Gemälde zeigen sie, wie viele Techniken er virtuos beherrschte. Ein 1901 entstandenes Doppelporträt im Profil und en face im Handspiegel ist von fast altmeisterlicher Präzision. 1902 tritt sie im Samtkleid mit Lederhandschuhen und Haarnetz als unnahbare femme fatale auf. Im Pagenkostüm lehnt sie 1913 lässig und skeptisch an der Wand. Und als Aktmodell auf einer Chaiselongue in der Pose von Édouard Manets „Olympia“ (1863) aktualisiert sie dessen Provokation – inklusive Alterungsspuren auf der Haut und unter den Augen.

 

Dieser Frauenakt von 1909 ist eines der wenigen Werke von Zwintscher, deren Komplexität und Originalität fesselt. Ansonsten erweist er sich in dieser Retrospektive als hervorragender Handwerker, dessen Einfallsreichtum nach 1903 rasch versiegte. Fortan wiederholte er seine Erfolgformeln, um die Nachfrage zu bedienen. Das hat er mit vielen Künstlern einst und jetzt gemeinsam – aber deshalb ist er im Vergleich mit Klimt, Böcklin, Hodler oder Franz von Stuck eben zweitrangig.

 

Opfer westdeutscher Ignoranz?

 

Diese Einschätzung hält Hilke Wagner für innerdeutsche Ignoranz: „Die westdeutsche Nachkriegs-Kunsthistoriographie war überwiegend selbstreferenziell; sie schaute wenig (und schaut noch immer viel zu wenig) hinüber in den Osten Deutschlands – und so blieb so manche Künstlerin und mancher Künstler bis heute (…) weitgehend unbeachtet.“ Zwintscher als Opfer des Kalten Kriegs? Man darf gespannt sein, wie diese Ausstellung bei ihrer zweiten Station in Wiesbaden aufgenommen werden wird.