Marie Noëlle

Heinrich Vogeler – Aus dem Leben eines Träumers

Martha Vogeler (Anna Maria Mühe) und Heinrich Vogeler (Florian Lukas). Foto: Farbfilm/ Benjamin Eichler
(Kinostart: 12.5.) Erst dekorativer Jugendstil-Künstler, dann Propagandist der Sowjetmacht: Heinrich Vogeler wechselte radikal die Seiten – weswegen er lange ignoriert wurde. Ihm widmet Regisseurin Marie Noëlle ein schräges „Doku-Fiktion-Kaleidoskop“, das ihm durchaus gerecht wird.

Es war fast zu perfekt, um wahr zu sein. Anfang des 20. Jahrhunderts hatte der Künstler Heinrich Vogeler (1872-1942) alles, was er sich wünschen konnte: eine Familie mit Frau Martha und drei Kindern; das stattliche Anwesen Barkenhoff in der Künstlerkolonie Worpswede als Treffpunkt illustrer Gäste sowie reichlich Anerkennung; seine Werke wurden hoch geschätzt und teuer bezahlt. Doch Vogeler gab alles auf und setzte völlig neu an – mit einer Radikalität, die ihresgleichen sucht.

 

Info

 

Heinrich Vogeler –
Aus dem Leben eines Träumers

 

Regie: Marie Noëlle,

90 Min., Deutschland 2022;

mit: Florian Lukas, Anna Maria Mühe, Johann Von Bülow, Alice Dwyer

 

Website zum Film

 

Seinen außergewöhnlichen Werdegang zeichnet Regisseurin Marie Noëlle mit einem Film nach, der nicht minder eigenwillig ausfällt. Kein linear erzählendes Biopic, sondern „Doku-Fiktion“, die Fakten und Erdachtes wild zum „Kaleidoskop“ verwirbelt. Trotz aller Schrägheiten, die darin reichlich vorkommen, passt das recht gut zu Vogelers windungsreicher Vita – zumindest endet es nicht so trist wie sein Leben.

 

Nach Vaters Tod begütert

 

Dabei begann seine Laufbahn sehr geradlinig. Der Bremer Kaufmannssohn studierte Kunst in Düsseldorf; nach dem Tod des Vaters 1894 war er durch sein Erbteil finanziell abgesichert. Vogeler zog nach Worpswede; dort wurde er rasch mit Gemälden und Grafiken bekannt, die präraffaelitische Malweisen in den Jugendstil überführten. Sein Erfolg erlaubte ihm, ein Bauernhaus zur Barkenhoff-Residenz samt Park als Gesamtkunstwerk auszubauen, in dem er jedes Detail selbst gestaltet hatte.

Offizieller Filmtrailer


 

Zwei Monate in der Psychiatrie

 

Dort gingen etliche Persönlichkeiten ein und aus, die um 1900 Rang und Namen hatten, etwa Gerhart Hauptmann und Thomas Mann. Mit Paula Modersohn-Becker und Rainer Maria Rilke war Vogeler gut befreundet. Schon 1905 bekam die Idylle aber erste Risse; davon zeugt sein Gemälde „Sommerabend (Das Konzert)“ – auf dieser Ansicht der Barkenhoff-Terrasse bleiben alle Figuren isoliert. Fünf Jahre später nahm sich seine Frau einen Liebhaber; dagegen wandte sich Vogeler sozialem Engagement zu.

 

Der Dienst als Nachrichtenoffizier im Ersten Weltkrieg erschütterte sein Weltbild; das mündete in sein bizarres „Märchen vom lieben Gott“. In diesem Text griff er Kaiser Wilhelm II. direkt an, was ihm zwei Monate in der Psychiatrie einbrachte. Danach schlug sich Vogeler auf die Seite der radikalen Linken und wandelte nach dem Ende der Monarchie Barkenhoff 1919 in eine Kommune um; wo zuvor Schöngeister flaniert waren, erholten sich nun Arbeiterkinder.

 

Umzug in die Sowjetunion 1931

 

1923 reiste Vogeler erstmals mit seiner zweiten Partnerin Sonja Marchlewska in die Sowjetunion. Um die Dynamik gesellschaftlichen Fortschritts darzustellen, entwickelte er seine „Komplexbilder“: Kompositionen aus etlichen Facetten, deren jeweilige Motive durch futuristische Kraftlinien miteinander verflochten sind. Zurück in Deutschland, geriet er zwischen die Fronten rivalisierender KP-Strömungen. 1931 siedelte er endgültig in die Sowjetunion über; bald musste er sich dem Diktat des Sozialistischen Realismus anpassen. 1941 wurde er nach Kasachstan deportiert, wo er im Folgejahr starb.

 

Vom arrivierten Jugendstil-Arrangeur der Bourgeoisie, der 1905 die „Güldenkammer“ im Bremer Rathaus ausstaffierte, zum enthusiastischen Aufbauhelfer der Sowjetmacht: Was löste diesen Sinneswandel aus? Dieser Frage geht Regisseurin Noëlle zwar chronologisch, aber im Zickzack nach. Original-Dokumente oder -Zitate werden durch mehr oder weniger realistische Spielszenen bebildert, erläutert von einem Dutzend heutiger Vogeler-Kennern: von seinen Nachfahren über Museumsleute bis zu Kreativen jeder Couleur.

 

Mit Rodin über Erotik plaudern

 

Dass Florian Lukas in der Hauptrolle eher blass und verhalten bleibt, schadet nicht: Als reiner Tor lässt er oft beobachtend das bewegte Treiben ringsherum geschehen. Manche Szenen sind peinlich konstruiert und papieren betextet bis zum Fremdschämen; wenn etwa Vogeler seinen Nachkriegs-Pazifismus einer lebensgroßen Wilhelm-II-Projektion ins Gesicht schreit.

 

Hintergrund

 

Website zur großen Vogeler-Gedenkausstellung in Worpswede

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Paula Modersohn-Becker" – umfassende Werkschau in der Schirn Kunsthalle, Frankfurt/Main

 

und hier eine Besprechung des Films "Paula – Mein Leben soll ein Fest sein" – einfühlsames Biopic über die Malerin von Christian Schwochow

 

und hier ein Beitrag über den Film "Auguste Rodin" – ausgezeichnetes Biopic über den Bildhauer von Jacques Doillon mit Vincent Lindon

 

und hier eine Kritik des Films "Marie Curie" – gefühliges Biopic über die Nobelpreisträgerin von Marie Noëlle

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "Norbert Bisky – Zentrifuge" – Werkschau des Leipziger Malers in der Kunsthalle Rostock.

 

Oder Auguste Rodin (Samuel Finzi) unmotiviert mit der Gegenwarts-Künstlerin Sophie Sainrapt über erotische Grafik parliert. Oder zwei linke Regisseure im Moskauer Kino Vogeler über den stalinistischen Geheimdienst belehren – und prompt zwei NKWD-Schergen einen Zuschauer aus dem Saal zerren.

 

Zwischen beiden Kalter-Krieg-Lagern

 

In anderen Passagen überzeugt das Wechselspiel aus Schlüsselmomenten und Ad-hoc-Kommentaren: Weil Vogeler am Morgen der Hochzeitsnacht mit Mama frühstückte, charakterisiert ihn die Psychologin Jeanette Fischer als Muttersöhnchen – der sich lieber seinen Werken als Partnerinnen widmete. Und Norbert Bisky, in den Nuller Jahren gefeierter Starmaler der „Neuen Leipziger Schule“, erklärt bündig, warum Vogeler lange weitgehend ignoriert wurde.

 

In der Bundesrepublik schätzte man den Jugendstil-Künstler – aber nicht den Agitprop-Maler ab 1920. Im Ostblock war es umgekehrt: Seine sozialistischen Motive fanden Anerkennung – anders als das blumig-dekorative Frühwerk in Worpswede. Jedes Lager wertete das halbe Œuvre ab; so wurde die Vogeler-Rezeption ein Opfer des Kalten Kriegs. Das soll eine große Gedenkausstellung zum 150. Geburtstag in vier Worpsweder Häusern ändern.

 

Wagemut als Konstante

 

Und dieser Film: Vielleicht wird sein schnell geschnittener Schweinsgalopp aus spleenigen Einfällen auf ständig wechselnden Zeitebenen paradoxerweise Vogeler durchaus gerecht. Als einem vom Erfolg verwöhnten Künstler, den arge Sinnkrisen erschütterten; der sich erst in Rollenspielen als Märchenprinz gefiel und später seine ganze Habe bereitwillig dem Proletariat übereignete. Was immer er tat, an einem fehlte es ihm – anders als dem heutigen Kunstbetrieb – nie: Wagemut.