
„Retrotopia“ ist ein famoser Ausstellungstitel. Die Utopie als der – so wörtlich – Nicht-Ort, an dem alle Zwänge aufgehoben und Probleme gelöst sind, hat seit der Frühneuzeit trotz aller Enttäuschungen ihre Anziehungskraft nicht verloren. Und Retrospektiven, also Rückblicke, erfreuen sich in einer erschöpften Zivilisation, die das Beste längst hinter sich zu haben glaubt, immer größerer Beliebtheit. Die Kombination beider Begriffe ist also unschlagbar attraktiv.
Info
Retrotopia –
Design for Socialist Spaces
25.03.2023 - 16.07.2023
täglich außer montags 10 bis 18 Uhr,
am Wochenende ab 11 Uhr
im Kunstgewerbemuseum, Kulturforum, Matthäikirchplatz, Berlin
Engl. Katalog 36 €
Weitere Informationen zur Ausstellung
Eleganz jenseits der Tristesse
Dabei kam man zwischen den 1950er und 1980er Jahren gestalterisch weiter als gemeinhin gedacht. Wer die Region bereist, erlebt häufig, dass jenseits von Schwerindustrie- und Plattenbau-Tristesse so funktionelle wie elegante Formgebung möglich war – die zudem verblüfft, weil sie unabhängig von Design-Moden in der übrigen Welt entstand. Insbesondere in repräsentativen Bereichen wie Empfangssälen, Hotels oder Gastronomie glänzten die Gestalter oft mit originellen Lösungen; da lohnt eine vergleichende Betrachtung.
Impressionen der Ausstellung
Kleinteilig nach Ländern gegliedert
„Die Ausstellung untersucht Zukunftsvisionen in den Ländern Osteuropas und die utopischen Konzepte, die ihr Design prägten“, so Hermann Parzinger, Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Diesem Anspruch wird die in zwei Bereiche aufgeteilte Schau – die eigentliche Präsentation erfolgt in der Sonderaustellungsfläche im Kulturforum, ergänzende Kontext-Schautafeln sind im Kunstgewerbemuseum untergebracht – jedoch nicht gerecht. Weil sie nicht nach Visionen und Konzepten, sondern kleinteilig nach Ländern gegliedert ist.
Nicht weniger als 20 Ko-Kuratoren aus elf Nationen sind an dem Vorhaben beteiligt. Ihnen scheinen kaum Vorgaben gemacht worden zu sein; zumindest lassen sich keine erkennen. So beackert jede und jeder sein Spezialgebiet: Die einen porträtierten Design-Doyens aus ihrer Heimat, andere stellen Großprojekte vor oder breiten Gebrauchsgegenstände wie Eierkocher und Zitronenpressen aus. Massenhaft hergestellte Alltagsartikel finden sich neben kühnen Gedankenspielen für die Schublade. Vom Kinderspielzeug aus Polen bis zur zentnerschweren Gussglas-Installation „Weltraumfantasie“ aus Litauen ist alles vertreten – nur ein roter Faden fehlt.
Staubsauger-Gehäuse als Wandleuchte
Dabei böte sich etwa der Aufbruch ins All als solcher an: Die Flüge des Sputnik-Satelliten 1957 und vier Jahre später der von Juri Gagarin beflügelten auch die Vorstellungskraft osteuropäischer Designer. Populärstes Abfallprodukt der Weltraumforschung wurde der kugelrunde Staubsauger „Saturnas“ mit drei Rädern, der ab 1962 Millionen sowjetischer Wohnungen sauber hielt. Sein Gehäuse war so allgegenwärtig, dass es als Wandleuchte weiterverwendet wurde – Innovation durch Materialknappheit.
Noch erfindungsreicher war eine Fabrik im litauischen Kaunas: Sie rüstete eine alte deutsche Webmaschine, die wohl als Reparations-Anlage demontiert worden war, zur Herstellung künstlicher Blutgefäße um. Diese medizintechnische Prothese wurde allerdings nur vier Monate lang produziert. Eine andere gesamtsozialistische Gemeinsamkeit waren wenig später Anleihen bei westlicher Pop-Art-Ästhetik – nicht so avanciert, aber dafür Allgemeingut.
Im begehbaren Foto-Bildband
Erstaunlich, wie weit verbreitet bauchige Formen in knalligen Farben waren: von einzelnen Objekten wie Lampen oder Radiogehäusen bis zu kompletten Inneneinrichtungen. In diesem Stil möblierte ein tschechisches Architektenpaar sämtliche Säle des 1977 in Karlsbad eröffneten Kurhotels „Thermal“. Im gleichen Look gestalteten zwei slowakische Kollegen die Regierungslounge im Flughafen von Bratislava; wobei die hypermodern aussehenden Elemente mangels adäquater Maschinen mühsam von Hand angefertigt werden mussten.
All das ist meist allein in Abbildungen vorhanden, die in langen Reihen die Stellwände bedecken; nur von wenigen Original-Objekten ergänzt und veranschaulicht. Während Rundgänge durch Design-Ausstellungen meist wie Schaufensterbummel entlang von Regalen voller Waren wirken, fühlt man sich hier eher in einem begehbaren Foto-Bildband. Allerdings ohne Erläuterungen: Die sind in ein 60-seitiges Gratis-Begleitheft ausgelagert.
Vollgestopfte Kommunalka-Wohnung
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Baumeister der Revolution: Sowjetische Kunst und Architektur 1915 – 1935" über Meisterwerke konstruktivistischer Architektur vor dem Stalinismus im Martin-Gropius-Bau, Berlin
und hier eine Besprechung der Ausstellung "Radikal Modern: Planen und Bauen im Berlin der 1960er-Jahre" – umfassende Überblicksschau über Architektur in Ost + West in der Berlinischen Galerie, Berlin
und hier einen Beitrag über die Ausstellung "El Lissitzky und eine Rolle Plakate" – avantgardistisches Plakatdesign aus der frühen Sowjetunion im Sprengel Museum, Hannover.
In diesen Kojen lassen sich überraschende Entdeckungen machen. Manche sind skurril: Ein sowjetisches Design-Team entwickelte 1969/72 ein „Heim-Informations-System“ mit allen Hightech-Schikanen – in allen Möbeln steckten Computer für Smart-Home-Anwendungen, die damals nicht ansatzweise verfügbar waren. Andere waren visionär: Die Werbegrafik für die „X. Weltfestspiele der Jugend“ 1973 in Ost-Berlin verwendete Signets in Regenbogenfarben, die später zu Symbolen der LGBTQI-Bewegung werden sollten.
Nicht utopisch, nur retro
Doch insgesamt leidet diese Ausstellung an demselben systemischen Defizit, das auch den Staatssozialismus erledigte. Hochgespannte Absichten lassen sich mit unzureichenden Ressourcen nicht verwirklichen; versucht man es trotzdem mit großem rhetorischen Aufwand, kommt nur Stückwerk heraus. In diesem Sinne ist „Retrotopia“ nicht utopisch, nur retro.