Berlin

Retrotopia – Design for Socialist Spaces

Modell eines ‘intelligenten Arbeitsraums’ in Originalgröße; Teil einer ‘Heim-Informations-Maschine ‘ auf der Elektronik-Ausstellung, Moskau, 1971, Reprint, 2023, © Privatsammlung Wladimir Papernyj.
Asservatenkammer für Ostalgiker: Das Kunstgewerbemuseum will nachzeichnen, welche Visionen Architektur und Design im Ex-Ostblock prägten. Im von 20 Kuratoren dicht bestückten Potpourri ist vom Eierkocher bis zur Weltraumfantasie alles vertreten – nur ein roter Faden fehlt.

„Retrotopia“ ist ein famoser Ausstellungstitel. Die Utopie als der – so wörtlich – Nicht-Ort, an dem alle Zwänge aufgehoben und Probleme gelöst sind, hat seit der Frühneuzeit trotz aller Enttäuschungen ihre Anziehungskraft nicht verloren. Und Retrospektiven, also Rückblicke, erfreuen sich in einer erschöpften Zivilisation, die das Beste längst hinter sich zu haben glaubt, immer größerer Beliebtheit. Die Kombination beider Begriffe ist also unschlagbar attraktiv.

 

Info

 

Retrotopia –
Design for Socialist Spaces

 

25.03.2023 - 16.07.2023

täglich außer montags 10 bis 18 Uhr,

am Wochenende ab 11 Uhr

im Kunstgewerbemuseum, Kulturforum, Matthäikirchplatz, Berlin

 

Engl. Katalog 36 €

 

Weitere Informationen zur Ausstellung

 

Wobei das nostalgische Zurückblicken auf verblasste Utopien nicht auf das ehemals sozialistische Lager beschränkt bleibt. Auch im Westen sind Retrofuturismus oder Steampunk – die frühindustrielle Ästhetik der Metall-Mechanik aus Kolben und Zahnrädern – durchaus beliebt. Doch der einstige Ostblock war von einer eigentümlichen Symbiose messianischer Ansprüche mit realer Mangelwirtschaft geprägt: Die Utopie der kommunistischen Gesellschaft galt als Staatsziel, das systematisch durch Fünfjahrespläne erreicht werden sollte.

 

Eleganz jenseits der Tristesse

 

Dabei kam man zwischen den 1950er und 1980er Jahren gestalterisch weiter als gemeinhin gedacht. Wer die Region bereist, erlebt häufig, dass jenseits von Schwerindustrie- und Plattenbau-Tristesse so funktionelle wie elegante Formgebung möglich war – die zudem verblüfft, weil sie unabhängig von Design-Moden in der übrigen Welt entstand. Insbesondere in repräsentativen Bereichen wie Empfangssälen, Hotels oder Gastronomie glänzten die Gestalter oft mit originellen Lösungen; da lohnt eine vergleichende Betrachtung.

Impressionen der Ausstellung


 

Kleinteilig nach Ländern gegliedert

 

„Die Ausstellung untersucht Zukunftsvisionen in den Ländern Osteuropas und die utopischen Konzepte, die ihr Design prägten“, so Hermann Parzinger, Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Diesem Anspruch wird die in zwei Bereiche aufgeteilte Schau – die eigentliche Präsentation erfolgt in der Sonderaustellungsfläche im Kulturforum, ergänzende Kontext-Schautafeln sind im Kunstgewerbemuseum untergebracht – jedoch nicht gerecht. Weil sie nicht nach Visionen und Konzepten, sondern kleinteilig nach Ländern gegliedert ist.

 

Nicht weniger als 20 Ko-Kuratoren aus elf Nationen sind an dem Vorhaben beteiligt. Ihnen scheinen kaum Vorgaben gemacht worden zu sein; zumindest lassen sich keine erkennen. So beackert jede und jeder sein Spezialgebiet: Die einen porträtierten Design-Doyens aus ihrer Heimat, andere stellen Großprojekte vor oder breiten Gebrauchsgegenstände wie Eierkocher und Zitronenpressen aus. Massenhaft hergestellte Alltagsartikel finden sich neben kühnen Gedankenspielen für die Schublade. Vom Kinderspielzeug aus Polen bis zur zentnerschweren Gussglas-Installation „Weltraumfantasie“ aus Litauen ist alles vertreten – nur ein roter Faden fehlt.

 

Staubsauger-Gehäuse als Wandleuchte

 

Dabei böte sich etwa der Aufbruch ins All als solcher an: Die Flüge des Sputnik-Satelliten 1957 und vier Jahre später der von Juri Gagarin beflügelten auch die Vorstellungskraft osteuropäischer Designer. Populärstes Abfallprodukt der Weltraumforschung wurde der kugelrunde Staubsauger „Saturnas“ mit drei Rädern, der ab 1962 Millionen sowjetischer Wohnungen sauber hielt. Sein Gehäuse war so allgegenwärtig, dass es als Wandleuchte weiterverwendet wurde – Innovation durch Materialknappheit.

 

Noch erfindungsreicher war eine Fabrik im litauischen Kaunas: Sie rüstete eine alte deutsche Webmaschine, die wohl als Reparations-Anlage demontiert worden war, zur Herstellung künstlicher Blutgefäße um. Diese medizintechnische Prothese wurde allerdings nur vier Monate lang produziert. Eine andere gesamtsozialistische Gemeinsamkeit waren wenig später Anleihen bei westlicher Pop-Art-Ästhetik – nicht so avanciert, aber dafür Allgemeingut.

 

Im begehbaren Foto-Bildband

 

Erstaunlich, wie weit verbreitet bauchige Formen in knalligen Farben waren: von einzelnen Objekten wie Lampen oder Radiogehäusen bis zu kompletten Inneneinrichtungen. In diesem Stil möblierte ein tschechisches Architektenpaar sämtliche Säle des 1977 in Karlsbad eröffneten Kurhotels „Thermal“. Im gleichen Look gestalteten zwei slowakische Kollegen die Regierungslounge im Flughafen von Bratislava; wobei die hypermodern aussehenden Elemente mangels adäquater Maschinen mühsam von Hand angefertigt werden mussten.

 

All das ist meist allein in Abbildungen vorhanden, die in langen Reihen die Stellwände bedecken; nur von wenigen Original-Objekten ergänzt und veranschaulicht. Während Rundgänge durch Design-Ausstellungen meist wie Schaufensterbummel entlang von Regalen voller Waren wirken, fühlt man sich hier eher in einem begehbaren Foto-Bildband. Allerdings ohne Erläuterungen: Die sind in ein 60-seitiges Gratis-Begleitheft ausgelagert.

 

Vollgestopfte Kommunalka-Wohnung

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Baumeister der Revolution: Sowjetische Kunst und Architektur 1915 – 1935" über Meisterwerke konstruktivistischer Architektur vor dem Stalinismus im Martin-Gropius-Bau, Berlin

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Radikal Modern: Planen und Bauen im Berlin der 1960er-Jahre" – umfassende Überblicksschau über Architektur in Ost + West in der Berlinischen Galerie, Berlin

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "El Lissitzky und eine Rolle Plakate" – avantgardistisches Plakatdesign aus der frühen Sowjetunion im Sprengel Museum, Hannover.

 

Diese Platzersparnis erlaubt den Kuratoren, elf Unterabteilungen in eine Etage zu quetschen, obwohl die Sonderaustellungsfläche im Kulturforum zwei Geschosse bietet. Aus Kostengründen, weil das Budget nicht mehr hergab? Jedenfalls vermittelt die drangvolle Enge einen guten Eindruck vom Lebensgefühl in notorisch überbelegten Kommunalka-Wohnungen, in denen alle Mieter ihre Habe irgendwie verstauen mussten.

 

In diesen Kojen lassen sich überraschende Entdeckungen machen. Manche sind skurril: Ein sowjetisches Design-Team entwickelte 1969/72 ein „Heim-Informations-System“ mit allen Hightech-Schikanen – in allen Möbeln steckten Computer für Smart-Home-Anwendungen, die damals nicht ansatzweise verfügbar waren. Andere waren visionär: Die Werbegrafik für die „X. Weltfestspiele der Jugend“ 1973 in Ost-Berlin verwendete Signets in Regenbogenfarben, die später zu Symbolen der LGBTQI-Bewegung werden sollten.

 

Nicht utopisch, nur retro

 

Doch insgesamt leidet diese Ausstellung an demselben systemischen Defizit, das auch den Staatssozialismus erledigte. Hochgespannte Absichten lassen sich mit unzureichenden Ressourcen nicht verwirklichen; versucht man es trotzdem mit großem rhetorischen Aufwand, kommt nur Stückwerk heraus. In diesem Sinne ist „Retrotopia“ nicht utopisch, nur retro.