München

Trace – Formations of Likeness

Zanele Muholi: Miss D’vine I, 2007. © Zanele Muholi. Courtesy Yancey Richardson, New York and The Walther Collection, Neu-Ulm / New York. © 2023 Haus der Kunst , München
Mehr ist immer besser: Das Haus der Kunst präsentiert die hochkarätige Medienkunstsammlung der „Walther Collection“; ihre Schwerpunkte sind zeitgenössische Fotografie aus Afrika und China. Doch um die Säle zu füllen, werden diese vor allem mit ausufernden Fotoserien zugepflastert – weniger wäre mehr gewesen.

In Sachen Fotografie ist „The Walther Collection“ wohl einer der am besten sortierten heimischen Gemischtwarenläden. Sammler Artur Walther verdiente Millionen an der Wall Street, folgt seit 1994 als Privatier seinen kulturellen Interessen und eröffnete 2010 ein eigenes Museum in seinem Geburtsort Burlafingen nahe Neu-Ulm. Die Auftakt-Ausstellung „Momente des Selbst: Porträtfotografie und soziale Identität“ hatte Okwui Enwezor kuratiert, der kurz darauf zum Direktor des Hauses der Kunst berufen wurde.

 

Info

 

Trace - Formations of Likeness - Fotografie und Video aus The Walther Collection

 

14.04.2023 - 23.07.2023

täglich außer dienstags 10 bis 20 Uhr

im Haus der Kunst, Prinzregentenstraße 1, München

 

Katalog 25 €

 

Weitere Informationen zur Ausstellung

 

Insofern schließt sich ein Kreis, wenn die „Walther Collection“ dort nun ihren Bestand ausbreitet. Wobei sämtliche Sammlungsbereiche zum Zuge kommen: klassische Fotografie, insbesondere deutsche, aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert; moderne und zeitgenössische Fotografie und Videokunst aus Ostasien und vor allem Afrika – dem Schwerpunkt der Kollektion – sowie „weltweite Alltagsfotografie“. Und alles in rauen Mengen: Rund 70 Fotografen sind mit Hunderten von Aufnahmen vertreten. Der Fokus der Ausstellung liegt auf Serien.

 

Ausstellung als Wegwisch-Display

 

Diese Überfülle wird zum Problem; nicht nur, weil der Bildspeicher aller Besucher begrenzt ist. In langen Reihen ganze Wände bedeckend, relativieren und neutralisieren sich die Motive gegenseitig. Die ungeteilte Aufmerksamkeit, die jede gelungene Aufnahme für sich beanspruchen darf, wird ständig abgelenkt – die Blicke der Betrachter wandern unstet hin und her. Damit stimuliert die Schau ohne Not jene halb konzentrierte, halb zerstreute Wahrnehmung, die typisch für unser Zeitalter der digitalen Bilderinflation ist: die Ausstellung als Wegwisch-Display.

Impressionen der Ausstellung


 

Eadweard Muybridges Pionierarbeit

 

Das ist schade, denn geboten wird eine komprimierte tour d’horizon durch die Geschichte der Porträtfotografie inklusive ihrer Schnittmenge mit der Landschaftsfotografie. Ausführlich stellt diese Schau vor allem die hierzulande wenig bekannten Bildproduktion in China und Afrika vor; diese Abschnitte sind am spannendsten.

 

Beginnend mit den allerersten Anfängen, etwa mehreren Fotoserien von Eadweard Muybridge: einem winzigen Ausschnitt aus den 20.000 Einzelbildern auf 780 Tafeln in seinem Hauptwerk „Animal Locomotion“. Damit gelang ihm 1887 erstmals, Bewegungsabläufe erkennbar zu machen, die sonst für das menschliche Auge zu schnell geschehen. Stillgestellt wurden auch die Gesichter der – tatsächlichen oder vermeintlichen – Kriminellen, die vermutlich Thomas Cunningham 1885 zu einem Album zusammenstellte: Fotografie diente von Beginn an auch herrschaftlicher Kontrolle.

 

Bildformeln als Kolonial-Exportgut

 

Den gesellschaftlichen Status der Abgebildeten hielt hingegen August Sander in den 1910/20er Jahren mit seinem Riesenprojekt „Menschen des 20. Jahrhunderts“ fest: 619 Porträts in 45 Mappen, unterteilt in Berufsgruppen, aber auch Kategorien wie Jugendliche, Gefangene und Geisteskranke. Auf diese Weise wollte Sander ein „Antlitz der Zeit“ erstellen; so der Titel der 1929 veröffentlichten Kurzfassung. Die Individualität seiner Modelle fing hingegen Seydou Keita aus Malis Hauptstadt Bamako in den 1950/60er Jahren ein: Sie nehmen in seinem Studio zwar förmliche Haltungen ein, doch auf seinen Porträts kitzelt Keita ihre jeweiligen Wesenszüge heraus.

 

Das Wechselverhältnis von ästhetischen und damit sozialen Zwängen sowie regionalen, oft subversiven Gegenreaktionen lässt sich am besten in den vier Sälen nachvollziehen, die der afrikanischen Fotografie gewidmet sind. Kolonial-Fotografen brachten aus Europa nicht nur ihre Ausrüstung, sondern auch Bildformeln mit: wie Würdenträger, Krieger oder einfaches Volk vor der Kamera aufzutreten haben.

 

Chinas Ahnenbildnis-Tradition

 

Manche dieser Posen waren erkennbar der Kunstgeschichte entlehnt – etwa die sich räkelnder, kaum bekleideter Venusse und Olympias. So wurden nun auch Foto-Akte mit schwarzen Frauen arrangiert, was die Südafrikanerin Jodi Bieber in ihrer Serie „Real Beauty“ ironisch zitiert. Ein Nachhall dieser Körper-Ansichten findet sich auch in den Porträts queerer Personen ihrer Landsmännin Zanele Muholi.

 

Auf einer anderen Tradition beruht die fotografische (Selbst-)Darstellung in China. Dort werden seit jeher lebensgroße Bildnisse von Ahnen zu ihrer Verehrung angefertigt: stets frontal, symmetrisch und in starrer Haltung, ähnlich christlich-orthodoxen Ikonen. Darauf bezieht sich der chinesische Performance-Künstler Zhang Huang: In „Skin“ (1997) deformierte er sein Gesicht, um verschiedene Gemütszustände darzustellen. In „Family Tree“ (2001) bedeckte er es mit dunklen Schriftzeichen, bis sein Antlitz völlig unter der Farbe verschwand – ein sinnfälliges Symbol für die Last äußerer Vorgaben.

 

Veränderungs-Dokus + Spielarten-Dossiers

 

Beide Arbeiten sind überzeugende Beispiele für intrinsische Qualitäten von Fotoserien: Solche Aufnahme-Reihen zeigen, wie eine Veränderung abläuft, die andernfalls unverständlich bliebe. Ähnliches gilt für das Triptychon „Dropping a Han Dynasty Urn“ von Ai Weiwei. Damit prangerte er 1995 Kulturzerstörung durch Turbomodernisierung an: Er hält das Gefäß – es fällt herab – es zerschellt am Boden.

 

Andere Fotoserien sind eher Dossiers, die unterschiedliche Spielarten eines Typs oder mehrerer Typen dokumentieren. In klassischer Weise etwa die „Urformen der Kunst“ von 1928: Mit 120 streng sachlichen Abbildungen belegte Karl Blossfeldt den Formenreichtum der Pflanzenwelt als Inspirationsquelle für Gestaltung in Kunst und Design. Seine Blüten, Blätter und Gräser empfangen den Besucher schon am Eingang – nebenan kontrastiert mit den Frisur-Aufnahmen von J.D.’Okhai Ojeikere aus Lagos. Für seine Serie „Hairstyles“ fotografierte er vier Jahrzehnte lang kühne Kreationen, die Nigerianerinnen auf dem Kopf trugen – diese „Skulpturen für einen Tag“ sind mindestens so variantenreich wie die Flora-Modelle von Blossfeldt.

 

500 Prostituierten-Porträts aus Beijing

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Momente des Selbst: Porträtfotografie und soziale Identität" - facettenreiche Themenschau in The Walther Collection, Neu-Ulm/Burlafingen

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Jimmy Nelson: Before They Pass Away" - hervorragende Serie über vom Aussterben bedrohte Völker in der Galerie CAMERA WORK, Berlin

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "Shirin Neshat - Living in one land, dreaming in another" mit Porträt-Fotoserien + Videos der exiliranischen Künstlerin in der Pinakothek der Moderne, München

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Thomas Struth: Figure Ground" - beeindruckende Werkschau des Fotokünstlers im Haus der Kunst, München.

 

Die dritte Erscheinungsform der Serie ist eher entbehrlich: schiere Anhäufungen von Material. Davon gibt es dieser Ausstellung entschieden zu viele; angefangen mit einer ganzen Wand voller zerkratzter und verblichener Privat-Aufnahmen. Sie wurden beim Erdbeben in Japan 2011 beschädigt und später von 1000 Freiwilligen unter Leitung des Fotografen Munemasa Takahashi zusammengetragen – als monumentales Momento für die Unfähigkeit, loszulassen.

 

Oder das Porträt-Mosaik von Xu Yong: Er hielt das Konterfei einer Prostituierten in Beijing zu verschiedenen Tageszeiten fest, insgesamt mehr als 500 Mal. Tatsächlich sieht sie mal aufgeweckt, mal erschöpft, mal entspannt und mal genervt aus – wer hätte das gedacht? Solche Bilder-Bulimie ist ein Kollateralschaden von Digitalfotografie, bei der Stakkato-Knipsen nichts kostet: der Irrglaube, man käme dem Wesen der Dinge durch Dauerablichten irgendwie näher.

 

Besser Ausflug nach Burlafingen

 

In schwächerer Form gab es diese Illusion schon bei Analog-Kameras: Ein Raum muss für die Selbstdokumentation von LGBTQ-Personen in den USA und Mexiko der 1970/80er Jahren herhalten. Blasse und banale Schnappschüsse, die kaum mehr als die naiv-narzisstische Freude am Verkleiden und mehr oder weniger lasziven Sich-spreizen vorführen – jeder Softporno aus dieser Zeit wäre vermutlich einfallsreicher und origineller.

 

Vielleicht sind solche überflüssigen Platzfüller dem Grundproblem des Hauses der Kunst geschuldet. In seinen – gemäß gigantomanischem NS-Geschmack – weitläufigen Sälen gehen die meisten Exponate visuell unter; da liegt es nahe, sie mit sperrigen Installationen oder meterlangen Großformaten zu füllen. Doch das bekommt nicht jedem Medium, etwa handlichen Fotografien. Wer die Highlights der „Walther Collection“ in einem dafür passgenau angelegten Ambiente erleben will, sollte sich einen Ausflug ins idyllische Burlafingen gönnen.