Mit Museums-Sammlungen verhält es sich wie mit Eisbergen: Nur ein kleiner Teil ist in den Schauräumen sichtbar – das Meiste bleibt in Depots wie unter Wasser verborgen. Da deutsche Museen – anders als etwa US-amerikanische – dem Dogma folgen, dass nichts, was sie erworben haben, jemals wieder verkauft werden darf, lässt sich über den Endpunkt dieser Entwicklung nach dem Muster mittelalterlicher Scholastik spekulieren.
Info
Pablo Picasso – Max Beckmann: Mensch, Mythos, Welt
17.09.2023 - 07.01.2024
täglich außer montags 11 bis 18 Uhr,
donnerstags bis 20 Uhr
im Von der Heydt-Museum, Turmhof 8, Wuppertal
Katalog 32 €
Weitere Informationen zur Ausstellung
17.02.2024 - 16.06.2024
täglich außer montags 10 bis 18 Uhr,
dienstags bis 20 Uhr
im Sprengel Museum, Kurt-Schwitters-Platz, Hannover
Weitere Informationen zur Ausstellung
Ehrgeiziges Konzept
Bis dahin ist noch etwas Zeit. Nichtsdestoweniger verblüfft, welche immensen Bestände Kunstmuseen bereits angehäuft haben – und wie viele davon praktisch nie zu sehen sind. Außer in Sonderausstellungen mit ehrgeizigem Konzept wie diesem: Das Von der Heydt-Museum in Wuppertal und das Hannoveraner Sprengel-Museum kooperieren, um zwei der bedeutendsten Künstler des 20. Jahrhunderts systematisch miteinander zu vergleichen – zum ersten Mal, wie beide Häuser versichern. Am erstaunlichsten ist: Sie tun das vorwiegend mit eigenem Besitz.
Feature über die Ausstellung in Hannover; © Sprengel Museum
Zwei Drittel aus eigener Hand
Weder die Schwebebahn- noch die Landeshauptstadt sind Zentren der Kunstwelt. Dennoch lagert hier eine erkleckliche Zahl von Arbeiten der Künstler. Zusammen verfügen beide Museen über 19 Gemälde von Pablo Picasso (1881-1873) und 21 von Max Beckmann (1884-1950), dazu über eine je dreistellige Anzahl ihrer Grafiken. Damit können sie mehr als zwei Drittel der in der Ausstellung präsentierten Gemälde selbst beisteuern; bei den rund 100 gezeigten Zeichnungen und Radierungen ist der Eigenanteil noch größer, was die Zahl der Leihgaben entsprechend verringert.
Allerdings hat dieser hohe Selbstversorgungs-Grad eine Kehrseite: Nicht jedes Exponat ist ein zeitloses Meisterstück. Bei etlichen springt ins Auge, dass es sich um Nebenwerke handelt; etwa flüchtige Skizzen oder vorbereitende Studien für später ausgeführte Gemälde. Was durchaus seinen Reiz hat: Solche Arbeiten bekommt man im normalen Ausstellungsbetrieb, der meist mit beeindruckenden Prunkstücken renommiert, selten zu Gesicht. Obwohl klar ist, dass selbst Ausnahmekünstler im Laufe der Jahre auch Nachrangiges und Unerhebliches produzieren.
Wahres Gemeinsames, falsches Ähnliches
Das ist jedoch für dieses ambitionierte Vorhaben ein Handicap: Wie soll ein umfassender Vergleich zweier Kunst-Superstars gelingen mit nur wenigen Hauptwerken, welche das Publikum kennt und die Forschung ausgiebig kommentiert hat? Die Macher behelfen sich mit drei Kunstgriffen. Erstens berufen sie sich auf ein Zitat des Kubismus-Miterfinders Georges Braque, das er auf zwei Maler des 19. Jahrhunderts bezog: „Das Gemeinsame ist wahr, das Ähnliche ist falsch.“ Will sagen: Auch wenn Picassos und Beckmanns Handschriften völlig unterschiedlich aussehen – entscheidend ist, dass sie sich mit den gleichen Themen und Problemen herumschlugen.
Zweitens werden diese von der Ausstellung in zehn Abschnitten angeordnet, die so allgemein gehalten sind, dass nahezu alles hineinpasst. Beginnend mit dem Titel der Schau „Mensch – Mythos – Welt“: Einem dieser drei Begriffe lässt sich – außer bei radikalem Konstruktivismus und Op-Art – wohl jedes Kunstwerk seit der Höhlenmalerei zuordnen. Das setzt sich in den zehn Kapiteln fort mit Überschriften wie „Das Bild als Bühne“, „Ding und Welt“ oder „Bilder von Frauen – Fiktionen von Weiblichkeit“.
Theater, Ding + Welt
In der Tat hat Beckmann viele Kompositionen explizit als „Welt-Theater“ angelegt, in dem seine Figuren wie Chargen einer Guckkasten-Bühne agieren; sie konnte zugleich ein Varieté, eine Gaststätte oder eine Dachkammer als Schauplatz von Gewalt-Dramen sein. Besonders augenfällig wird das Theatralische bei seinen zehn Triptychen; ihre abgründige Spannung entsteht aus dem oft kaum zu entschlüsselnden Kontrast zwischen drei großformatigen Szenenbildern. Derlei in Picassos schillerndem Riesenwerk ausmachen zu wollen, bedarf aber einiger Interpretations-Akrobatik.
Ähnlich verhält es sich mit „Ding und Welt“, womit Dinge in der Welt gemeint sind, also Landschaften und Stillleben. Dass letztere für Picasso ein bevorzugtes Experimentierfeld waren, um zahllose Varianten kubistischer Darstellung auszuprobieren, ist ein Gemeinplatz. Dass Beckmanns Arbeiten diesen Abstraktionsgrad nie erreichte, obwohl er Objekte mehr oder weniger stark auf Zweidimensionalität reduzierte, versteht sich. Wozu dem ein eigenes Kapitel widmen?
Briefmarkengroße Schwarzweiß-Bilder
Auf einen vergleichbaren Gegensatz laufen auch die Frauenbilder der beiden Künstler hinaus. In Beckmanns Werk dominieren wuchtige Gestalten mit massigen Gliedern, die bildfüllend statische Präsenz ausstrahlen – ruhige Pole in einem chaotischen Bilderkosmos. Bei Picasso sind Frauen eher Projektionsflächen für erotisches wie künstlerisches Begehren: Nimmermüde hält er sie in immer neuen Posen und Umgebungen fest, mit ebenso unterschiedlichen Stilmitteln.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Picasso – Bleu et Rose/Der junge Picasso – Blaue und Rosa Periode" in Paris und Riehen bei Basel
und hier eine Besprechung der Ausstellung "Picasso – Das späte Werk" – große Retrospektive im Museum Barberini, Potsdam
und hier einen Artikel über die Ausstellung "Pablo Picasso: Frauen – Stiere – Alte Meister" – große Grafik-Retrospektive im Kupferstichkabinett, Berlin
und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Max Beckmann – Welttheater" – umfassende Werkschau zum Thema im Museum Barberini, Potsdam
und hier einen Bericht über die Doku "Max Beckmann – Departure" – erhellende Analyse seiner Triptychen + Vergleich mit Picasso von Michael Trabitzsch.
Künstlerneid + Wunschdenken
Dabei kann der Ansatz, Picasso mit Beckmann zu vergleichen, sich auf einen namhaften Gewährsmann berufen: Beckmann selbst. Laut Sprengel-Direktor Reinhard Spieler ist von Picasso nur eine einzige auf Beckmann gemünzte Bemerkung überliefert: Dessen Ausstellung 1931 in Paris soll er mit den Worten „Il est très fort“ („Er ist sehr stark“) kommentiert haben.
Dagegen rieb sich Beckmann am Bemühen, seinen Rivalen in der französischen Kunstmetropole zu überflügeln, beinahe auf. Von 1929 bis 1932 lebte er jeweils im Winterhalbjahr dort, um den Kunstmarkt zu erobern, und schrieb in Briefen an seine Galeristen etwa: „… unsere Chancen stehen ausgezeichnet, der Picassorummel ist am zusammenbrechen“. Von wegen: 1933 brach stattdessen sein deutscher Heimatmarkt zusammen.
Keine MoMA-Gegenüberstellung
Auch der direkte Bildvergleich von Picasso mit Beckmann hat ein berühmtes Vorbild: Während des Zweiten Weltkriegs hing im New Yorker Museum of Modern Art (MoMA) Picassos Antikriegs-Klassiker „Guernica“ von 1937 neben Beckmanns erstem Triptychon „Departure/ Abfahrt“ (1932/33). In direkter Gegenüberstellung werden Parallelen und Differenzen offensichtlich; naturgemäß findet sich keines der beiden Werke in dieser Schau, ebenso wenig ein anderes Triptychon. Wer die Künstler wirklich systematisch vergleichen will, muss folglich Bildbände bemühen oder auf Rundreise gehen.