Brühl

Surreal Futures

Jake Elwes: Zizi - Queering the dataset (Detail), 2019, Videoinstallation (stills), Courtesy of the artist. Fotoquelle: Max Ernst Museum
Die Zukünfte des Surrealismus: Geist und Methoden dieser Bewegung will das Max Ernst Museum in der zeitgenössischen Digital-Kunst aufspüren. Mit begrenztem Ertrag: Manche Werke schließen an surrealistische Vorbilder an, andere bieten nur politisch korrekte Spielereien – in einem wilden Mix.

Auferstehung der Cadavres Exquis, der „erlesenen Leichen“: In jüngster Zeit erlebt der Kunstbetrieb, wohl aus Überdruss an der binären 0-1-Logik der Digitalisierung, eine Renaissance des Surrealismus – sowohl der historischen Bewegung als auch ihrer Methode. Am prominentesten bei der 59. Biennale in Venedig im Sommer 2022: Unter dem Titel „The Milk of Dreams“ präsentierte Kuratorin Cecilia Alemani alle möglichen Spielarten der Kunst abseits von Rationalität.

 

Info

 

Surreal Futures

 

27.08.2023 - 28.01.2024

täglich außer montags 11 bis 18 Uhr

im Max Ernst Museum des LVR, Comesstraße 42, Brühl 

 

Katalog  29 €

 

Weitere Informationen zur Ausstellung

 

Gleichzeitig gibt es eine Gegenbewegung: High-Tech-Kunst will diverse Digital-Technologien von Scannern über Roboter bis zu Künstlicher Intelligenz (KI) kreativ nutzbar machen. Oft erinnern die Resultate aber mehr an Chemie-Labore oder Computer-Messen; daran krankten etwa die diesjährigen Ausstellungen „Renaissance 3.0“ in Karlsruhe und „Dimensions – Digital Art since 1859“ in Leipzig.

 

Werke von Max Ernst als Vorbilder

 

Beide Strömungen zusammenführen möchte nun das Brühler Max Ernst Museum in „Surreal Futures“ mit Beiträgen von mehr als 30 Künstlern. Der Ort ist gut gewählt: Der Namensgeber und Hausheilige hat in etlichen seiner Werke mit surrealistischen Verfahren Szenarien entworfen, die wie utopische oder – meist – dystopische Landschaften der Zukunft wirken. Doch was kann Surrealismus im heutigen Kontext bedeuten?

Trailer zur Ausstellung; © Max Ernst Museum


 

Bretons revolutionären Geist ernst nehmen

 

Ist inzwischen schon die gesamte Gegenwart voller „Veränderungen, (die) geradezu surreal wirken, im Sinne des nicht mehr Fassbaren und Begreifbaren“, wie Museumsdirektorin Madeleine Frey im Vorwort des Katalogs versichert? Oder gar alles, „das über die Realität hinausgeht, also surreal ist“, wie der Kunsttheoretiker Wolfgang Ullrich wenige Seiten später behauptet? Solche sehr inklusiven Definitionen verwässern den Surrealismus-Begriff; ähnlich wie die alltagssprachliche Rede von einer Situation oder einem Eindruck, der irgendwie surreal sei.

 

Dagegen nimmt Kurator Patrick Blühmel den revolutionären Geist, der Surrealismus-Papst André Breton und die Seinen ab den 1920er Jahren beseelte, absolut ernst: ihren Anspruch, die logo- und ethnozentrische Weltsicht der Moderne zu zertrümmern – samt der Unterdrückung, Ausbeutung und Umweltzerstörung, die damit einhergehen. Geändert haben sich nur die Subjekte und Agenten der Befreiung. Nun stehen Genderdiversität, Überwindung des Anthropozän und nichtwestliche Zukunftsvisionen wie Afro-, Queer- und Indigener Futurismus im Fokus; also die üblichen Verdächtigen aktueller Identitäts- und Emanzipations-Debatten.

 

Körper-Deformation + queere Freakshow

 

Surrealismus als die irrationale, alogische Kunstform schlechthin, jetzt im Dienste heutiger linker Politik-Projekte – kann das gut gehen? Am ehesten in der ersten von vier Abteilungen, die „Digital Bodies“ gewidmet ist. Schon der Auftakt liefert neue Körper-Bilder: Vor dem Eingang zur Schau hat Louis-Philippe Rondeau den Ganzkörper-Scanner „Liminal“ installiert. Er projiziert Echtzeit-Aufnahmen von jedem, der hindurch geht, an die Wand – bleibt man stehen, wird man zum Balken verzerrt. Wer aus der Reihe tanzt, wird deformiert, lautet die Botschaft.

 

Fast bis zur Unkenntlichkeit verzerrt sind auch die „Deepfake-Drags“ von Jake Elwes. Er hat KI-Gesichtserkennungs-Systeme, die eigentlich auf Normalos abgestimmt sind, mit 1000 Fotografien von genderfluiden Personen trainiert; diese lässt er munter morphen und verschmelzen. „Zizi – Queering the Dataset“ ist eine fröhliche Freakshow voller Antlitze, die zu schräg sind, um physiologisch möglich zu sein, aber durchaus als Musterkatalog für Cyborgs taugen.

 

IT-Berg kreist und gebiert Mäuslein

 

Ähnlich jenseits des Menschenmöglichen sind die Bewegungsabläufe, die Doug Rosman in „Self-Contained“ (etwa: „eigenständig, in sich geschlossen“) vorführt. Er hat KI mit 15.000 Fotografien von sich selbst gefüttert; nun spuckt die Maschine zahllose Varianten seiner Körperhaltungen aus, die Rosman zu Kurzfilmen kompiliert. Ebenfalls eine Freakshow mit hohem Slapstick-Faktor, die aber daran gemahnt, was Transhumanismus-Chirurgen mit unseren Leibern anstellen könnten. Das scheint wahrscheinlicher als der Avatar „Oz“, den die Chinesin Cao Fei kreiert hat: Ihr Simulation einer Glatzköpfigen mit Tintenfisch-Tentakeln sieht eher nach verunglücktem Computerspiel aus.

 

Ebenso unausgereift wirken die Beiträge in der zweiten Abteilung „Transforming Landscapes“. Mit enormem Aufwand – drei wandhohe Projektions-Leinwände und Tonnen von Informationen – simulieren drei Künstler ein globales Lösungssystem. Das verrechnet Daten aus unzähligen Quellen, um Klimawandel-Probleme zu beheben: etwa durch Bau von Dämmen oder Umsiedlung der Bevölkerung. Der IT-Berg kreist und gebiert Mäuslein. Genauso vorhersehbar ist das Resultat von Paul Duncombes Experiment, der Pflanzen in Glaskästen radioaktiver Strahlung aussetzt. Sie gehen ein – was sonst?

 

Sigmund Freud mit Nanobots töten

 

Wie meist bei Biochemie-Kunst erscheinen alle Arbeiten dieser Sektion wie Versuchsanordnungen aus Uni-Instituten; es fehlt ein ästhetischer Mehrwert. Der wird in der dritten Abteilung „Future Worlds“ en gros geboten – allerdings häufig auf Kosten des Inhalts. David Alabo aus Ghana fertigt bunte Hochglanz-Bilder mit Black-Power-Motiven an; sie hätten hervorragend als Cover für Jazzrock-Platten aus den 1970er Jahren getaugt, etwa von Sun Ra oder Miles Davis.

 

Die Portugiesin Isadora Neves Marques liefert einen Videobeitrag ab, in dem digitale Nanobots Sigmund Freud umbringen, bevor er die Psychoanalyse entwickeln kann – eine pubertäre Mordphantasie. Und der Kolumbianer Camilo Sandoval, geboren 1991, kleidet einen ganzen Raum als Gamer-Paradies aus: mit Computerspiel-Grafiken in kreischenden Farben, Nerd-Sci-Fi-Literatur und Simpel-Spielen. Das hat wenig mit Surrealismus, aber viel mit der Infantilisierung der „Generation Y“ zu tun.

 

Tobender Hologramm-Hausengel

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Renaissance 3.0" über "neue Allianzen von Kunst und Wissenschaft im 21. Jahrhundert" im ZKM, Karlsruhe

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Dimensions – Digital Art since 1859" – Überblicks-Schau über High-Tech- + Digital-Kunst in den Pittlerwerken, Leipzig

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "Surrealismus und Magie – Verzauberte Moderne" – opulent bestückte Themenschau im Museum Barberini, Potsdam

 

und hier einen Beitrag über die "59. Biennale Venedig: The Milk of Dreams" mit einer umfassenden Würdigung und Rehabilitation des Surrealismus

 

und hier eine Kritik der Ausstellung "Link in Bio. Kunst nach den sozialen Medien" mit postdigitalen Werken im Museum der bildenden Künste, Leipzig.

 

Ohnehin etablieren sich Computerspiele zusehends als Material für künstlerische Bearbeitung. So auch in der vierten Sektion „Pasts Presents Futures“, in der Exponate in die ständige Max-Ernst-Werkschau des Hauses mal passend, mal eher willkürlich integriert werden. Wie etwa „Promised Land“ des Pakistani Imran Channa: Sein Dreikanal-Videospiel kontrastiert Aufnahmen aus dem früheren Niederländisch-Ostindien, heute Indonesien, mit Simulationen historischer Ansichten etwa von Handels- und Kriegsschiffen. Das könnte instruktiv sein – würde das Spiel-Apparatur in der Schau reibungslos funktionieren.

 

Erstaunlich agil rast dagegen der „Hausengel“ wie ein Derwisch über sein holografisches LED-Display: Diese Gestalt auf Max Ernsts berühmtem Gemälde „L’Ange du foyer“ von 1937 hat Cyprien Gaillard animiert. Der Künstler ist stolz auf seine funkelnagelneue Technik, der Anblick einer mitten im Raum tobenden Figur beeindruckt – aber nur als Reminiszenz an eine ikonische Figur des klassischen Surrealismus.

 

Surrealismus kann jederzeit wiederkommen

 

Dieses Dilemma prägt die gesamte Werkauswahl: Entweder schließen heutige Arbeiten explizit an die Ikonographie des Surrealismus an – dann wirken sie leicht epigonal. Oder sie machen sich eher die surrealistischen Maximen von Entgrenzung, Automatismen und Kontrollverlust zueigen – dann greifen sie in alle möglichen Richtungen aus, aber surrealistische Gestaltungselemente sind kaum auszumachen. Ganz abgesehen von Pseudo-Naturwissenschafts-Projekten, die jeden sinnvollen Kunstbegriff sprengen.

 

Hat der Surrealismus eine Zukunft? Vielleicht, aber vermutlich nicht diese: Dafür ist die Zusammenstellung zu inkohärent, qualitativ unausgewogen und von zeitgeistigen Denkschablonen diktiert. Doch das macht nichts; eine surrealistische Explosion von Kreativität kann jederzeit über uns kommen, wie der Messias.