Berlin

Hej rup! Die Tschechische Avantgarde

Karel Teige: Collage No. 142 (Detail), 1940, Museum der tschechischen Literatur, Prag. Fotoquelle: Bröhan Museum Berlin
Vom Kubismus über Poetismus und Konstruktivismus bis zum Surrealismus: Die Kunst in der Tschechoslowakei der Zwischenkriegszeit war enorm wandelbar und vielseitig. Das zeigt eine fulminante Ausstellung im Bröhan Museum – und rehabilitiert eine hierzulande fast vergessene Spielart der Moderne.

Im mährischen Brünn steht ein Meilenstein der klassischen Moderne, der zum UNESCO-Welterbe zählt: die Villa Tugendhat. Architekt Ludwig Mies van der Rohe entwarf sie 1929/30 für ein tschechisches Unternehmerpaar – was damals nicht jedem gefiel. „Die Villa Tugendhat ist ein Höhepunkt des modernen Snobismus, ein Angeberstück für Millionärskultur, das bei aller formalen Qualität nichts anderes ist als die Neuausgabe eines protzigen Barockpalais,“ urteilte Karel Teige.

 

Info

 

Hej rup! Die Tschechische Avantgarde

 

12.10.2023 - 03.03.2024

täglich außer montags 10 bis 18 Uhr

im Bröhan-Museum, Schlossstraße 1a, Berlin

 

Katalog 38 €

 

Weitere Informationen zur Ausstellung

 

Der tschechische Künstler und Theoretiker propagierte ein anderes Extrem modernen Bauens 1932 in seinem Buch die „Kleinstwohnung“. Seine Idee des Kollektivhauses macht Schluss mit herkömmlichen Familienleben: Ähnlich wie in der frühen Sowjetunion soll alles kollektiviert werden, vom Kochen bis zur Kindererziehung. Organisiert nach Art eines Bienenstocks, mit gleichartigen Zellen für die Bewohner.

 

Fotoshooting mit André Breton

 

Auf einem Foto steht Karel Teige neben dem französischen Surrealismus-Wortführer André Breton und dessen Frau Jacqueline Lamba-Breton auf einer Straße, vermutlich in Prag: Breton war dort mehrmals zu Besuch. In den meisten tschechischen Avantgarde-Zirkeln der Zwischenkriegszeit mischte Teige ideenreich und meinungsstark mit: nur einer von zahlreichen Akteuren, mit denen diese Ausstellung ihre Besucher bekannt macht.

Impressionen der Ausstellung


 

Zwei Jahrzehnte bis NS-Einmarsch

 

„Hej rup!“ ruft das Bröhan Museum im Titel und setzt ein Ausrufezeichen: Das heißt: „Jetzt mal los!“ oder „Auf geht’s!“ Nachdem die Tschechoslowakei 1918 als neuer demokratischer Staat auf Europas Landkarte erschienen war, beginnt ein kultureller Aufbruch, den der wirtschaftliche Aufschwung befördert. Künstler suchen nach einer nationalen Identität und treiben zugleich die Vernetzung mit anderen Avantgarde-Strömungen voran, insbesondere denen in Frankreich.

 

Dominante Stile lösen einander Schlag auf Schlag ab, von Kubismus bis Surrealismus. Projekte, Gruppen und Zeitschriften als Sprachrohre werden aus der Taufe gehoben. Dass den Kreativen nur zwei Jahrzehnte bleiben sollten, bis deutsche Nazis die tschechoslowakischen Republik ab 1938 zerschlagen werden, kann niemand ahnen. Aber sie machen Tempo. Zuerst in Prag, der Metropole Böhmens, dann auch im mährischen Brünn und in anderen Landesteilen regt sich radikales Gestalten und Denken.

 

Schuhfabrikant baut Retortenstadt

 

Einen ganzen Raum widmet die Ausstellung dem Umbau der Kleinstadt Zlín östlich von Brünn: mit Fotostrecken, Architekturmodellen und dynamischer Wandgestaltung im konstruktivistischen Layout der 1920er Jahre. Dort war seit Generationen die Schuhfabrikanten-Familie Baťa ansässig. Durch einen Großauftrag der K.-u.-k-Armee im Ersten Weltkrieg finanziell saniert, plant Firmenlenker Tomáš Baťa im großen Stil. Sein Vorbild sind Henry Fords Autofabriken in Detroit mit ihrer durchorganisierten Massenfertigung.

 

Baťa will Produktion und Versorgung optimieren. Am Rande der Altstadt von Zlín wachsen schmucklose Neubauten in Quaderform aus dem Boden; die Zahl der Einwohner steigt in kurzer Zeit von 5000 auf 43.000. Um eine gewaltige neue Schuhfabrik aus Stahl und Glas gruppieren sich scharenweise Einfamilienhäuser für die Arbeiter, voll möbliert und bezugsfertig. Hinzu kommen ein Kino für die Abendunterhaltung, Schulen, ein Kaufhaus und der bis dato höchste Wolkenkratzer Europas als Verwaltungszentrale. Das Büro des Chefs lässt sich wie eine riesige Fahrstuhlkabine auf wechselnde Etagen hochfahren.

 

In den Garten statt in die Kneipe

 

Alle Bauteile werden, im Rastermaß standardisiert, aus Stahlbeton gleich vor Ort angefertigt. In diesem Paradies der Werktätigen soll kein Arbeiter Anlass zu Protesten haben oder seine Zeit in Kneipen totschlagen, beabsichtigt Baťa: Stattdessen kann jeder seinen Feierabend im eigenen Garten genießen. Ein Foto zeigt Arbeiterinnen und Arbeiter vor Staffeleien, die zwischen den Hochhäusern ihre schöne neue Welt malen. Utopie oder Dystopie? Die internationale Aufmerksamkeit für das innovative Projekt war groß: Der Kapitalismus versuche hiermit, dem Sozialismus Paroli zu bieten, hieß es.

 

Karel Teige fand das Projekt Zlín autoritär. Eine seiner wichtigsten Initiativen nannte sich „Devětsil“, auf Deutsch: „Pestwurz“. Die Künstlergruppe gegen abgestandenen Konservativismus wurde 1920 ins Leben gerufen. Wie in einem avantgardistischen Zeitschriftenkiosk im Stil der Zeit liegen die schnittig gestalteten Hefte der „Revue des Devětsil“ aus, abgekürzt: „RED“. Daneben Bücher mit kühnem Umschlag-Design: vom gebürtigen Prager und „rasenden Reporter“ Egon Erwin Kisch, vom Pariser Surrealisten Paul Eluard oder Vítězslav Nezval.

 

Kubistische Fassaden + Vasen

 

Der tschechische Dichter zählte gemeinsam mit Karel Teige zu den Mitgründern des „Devětsil“ sowie des „Poetismus“. Diese spezifisch tschechische Spielart der Moderne wollte spartenübergreifend Malerei, Literatur, Architektur und Theater miteinander verbinden und akzeptierte auch sonst keinerlei Scheuklappen. „Die Philosophie des Poetismus hält Leben und Werk nicht für zwei verschiedene Sachen,“ proklamierte Teige.

 

Die Enfilade der tschechischen Avantgarde begann mit dem Kubismus schon vor dem Ersten Weltkrieg. In Prag wurde nicht nur aufs Schönste kubistisch gemalt; es entstanden auch kubistische Wohnhaus-Fassaden, Schreibmöbel, Sofas und sogar Vasen. Die gezeigten Exponate wirken wie einem futuristisch-expressiven Filmset entsprungen. Wobei die zackenverliebte Ornamentfreude, die sich dabei austobte, bald jedoch passé war.

 

Schreibtisch auf Kufen

 

Danach paradieren schnörkellose Stahlrohrtische, rollbare Teewägen, schlichte Metallregale und schwenkbaren Leuchten; Form und Fertigung ähneln dem Bauhaus-Stil. Ein niedriger Freischwingersessel mit kräftigrotem Sitzbezug von Ladislav Žáks lädt zur „Siesta“; gewiss bequem wie eine Hängematte. Solche Möbel ähneln Turngeräten, sie geben sich leicht und mobil. Selbst ein wuchtiger Schreibtisch aus der Fabrik Hynek Gottwald in Prag, manövriert auf Kufen über den Boden: jederzeit verrückbar, falls gewünscht.

 

Auch das traditionelle böhmische Glas gab sich moderne Formen. Ein schnörkelloses Teeservice des Gestalters Ladislav Sutnar stammt aus demselben Jahr 1931 wie Wilhelm Wagenfelds berühmtes Pendant aus Jenaer Glas. Und die Fotografie als Leitmedium der Moderne gehört ohnehin zu den Stärken der tschechoslowakischen Zwischenkriegszeit. In der Manier des „Neuen Sehens“ werden schräge Perspektiven, extreme Nahsichten und heftige Kontraste ausgereizt.

 

Surreale Foto-Collagen

 

Mit dem aufkommenden Surrealismus gewinnt man dem Lichtbild alternative Ansichten ab. Aus Fliegenpilz und Frauenbeinen collagiert Karel Teige über der Prager Altstadtsilhouette eine träumerische, erotisch aufgeladene Szenerie. Zu den bedeutendsten Vertretern des Surrealismus zählten Toyen und ihren Kreativpartner Jindřich Štyrský. Die Malerin leitete ihr geschlechtsneutrales Pseudonym vom französischen Wort „citoyen“ für „Bürger“ ab. 1938 waren beide auf der internationalen Surrealisten-Ausstellung in Paris vertreten.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Toyen" – großartige Retrospektive der tschechischen Surrealistin in der Hamburger Kunsthalle

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Move little hands… „Move!" – herrlich versponnene Werkschau des tschechischen Surrealisten-Paars Jan + Eva Švankmajer im Lipsiusbau, Dresden

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Alle Macht der Imagination!" – Überblicks-Schau über 100 Jahre tschechische Kunst in der Kunsthalle im Lipsiusbau, Dresden

 

und hier ein Beitrag über die Ausstellung "Tschechischer Kubismus im Alltag – Artel 1908 - 1935" – facettenreiche Kunsthandwerks-Schau im Grassi-Museum, Leipzig.

 

Zuvor hatten sie eine eigene Kunstströmung namens „Artifizialismus“ ausgerufen. Leider wird nur ein einziges Gemälde von Toyen ausgestellt, deren Werk so einfallsreich wie wandelbar ist. „Am Waldrand“ entstand 1945: eine unheimliche Szenerie aus kahlen Bäumen, an deren Wurzeln Flammen züngeln. Unentwirrbare Taue hängen herab: Tod und Grauen liegen in der Luft, nicht Hoffnung. Die tschechischen Surrealisten hatten sich im Streit über Stalins mörderische „Säuberungen“ entzweit. 1947, kurz vor der Stalinisierung der Tschechoslowakei, emigrierte Toyen nach Paris; sie sollte nie wieder in ihre Heimat zurückkehren.

 

Schmelztiegel von Ideen aus Ost + West

 

Im dem Surrealismus gewidmeten Raum halten die Bilder eine Utopie des Auslotens innerer Welten als Gegenentwurf zur rationalistischen Moderne wach. Besonders eng an die aus Frankreich kommenden Impulse lehnte sich der Maler Emil Filla. Seine „Liegende“ oder „Drei Grazien“ erinnern mit ihren schwingenden Umrisslinien an die lyrisch deformierten Frauenkörper von Pablo Picassos surrealer Periode.

 

Zwischen Offenheit für Austausch und Epigonentum ist der Grat eben schmal. Dennoch beeindruckt die Vielseitigkeit der gezeigten Werke: Die tschechischen Modernisten hatten keine Scheu, sich als Schmelztiegel diverser Ideen aus Ost und West zu begreifen. Das passte zur zentralen Lage ihres Landes mitten in Europa, das diesen Anteil an der Kultur der Zwischenkriegszeit ziemlich aus den Augen verloren. Es ist Zeit, ihn zurückzugewinnen.