Dresden

Alle Macht der Imagination!

Ausstellungsansicht "Alle Macht der Imagination!": Installation von Martin & David Koutecký; © Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Foto: David Pinzer
Böhmischer Fiebertraum: Der Lipsiusbau zeigt eine wilde Mischung aus tschechischer Kunst der letzten 100 Jahre. Die Präsentation von Meisterwerken der klassischen Moderne mit surrealistischer Schlagseite wirkt gelungener als das Sammelsurium effekthascherischer Gegenwartskunst drumherum.

Ganz nah, und doch so fern: Abgesehen von Österreich teilt Deutschland mit keinem seiner neun Nachbarländer eine derart lange Grenze wie mit der Tschechischen Republik – sie misst 817 Kilometer. Trotz dieser ausgedehnten Berührungslinie hält sich der kulturelle Austausch in überschaubaren Grenzen: Tschechische Literatur, Filme und Kunst spielen hierzulande keine große Rolle.

 

Info

 

Alle Macht der Imagination!

 

25.02.2023 - 03.09.2023

täglich außer montags 10 bis 18 Uhr

in der Kunsthalle im Lipsiusbau, Georg-Treu-Platz 1, Dresden

 

Katalog 38 €

 

Weitere Informationen zur Ausstellung

 

Das wollen die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden (SKD) ändern: mit einer „Tschechischen Saison“, die im Sommer 2022 begonnen hat und mit dieser Ausstellung endet. Zum Auftakt wurden Großskulpturen tschechischer Künstler im öffentlichen Raum aufgestellt, dann folgten im August zwei Festivals mit Theater, Konzerten und Kleinkunst. Die Schau „Alle Macht der Imagination!“ soll das Ganze abrunden: durch einen umfassenden Überblick über bildende Kunst in Tschechien vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

 

Ex-Nationalgaleriechef als Kurator

 

Schon zuvor haben sich die SKD aufmerksam darum gekümmert: etwa vor dreieinhalb Jahren mit einer grandiosen Retrospektive des Werks von Jan und Eva Švankmajer, den Über-Eltern des tschechischen Nachkriegs-Surrealismus. Von Jan Švankmajer stammt auch die Devise, die der aktuellen Ausstellung ihren Titel gab und in der er ebenfalls vertreten ist. Kuratiert hat sie Jiří Fajt. Der umtriebige Kunsthistoriker, eigentlich Spezialist für frühneuzeitliche Kunst, hatte als Generaldirektor ab 2014 die vorher etwas verschlafene Prager Nationalgalerie in die heutige Event-Gesellschaft katapultiert und damit die Besucherzahlen deutlich erhöht.

Impressionen der Ausstellung


 

Mega-Monster-Installation am Anfang

 

Sein Wirken missfiel der Populisten-Regierung von Premier Andrej Babiš: Sie berief Fajt 2019 unter fadenscheinigen Vorwänden ab, wogegen Museumschefs weltweit protestierten. Seit Herbst 2021 soll er für die SKD Kooperationen und Partnerschaften in Osteuropa organisieren; der „Tschechischen Saison“ dürften also weitere folgen.

 

Mögen sie zugänglicher und übersichtlicher ausfallen als der Anfang dieser Ausstellung! Das Foyer des Lipsiusbaus haben die Brüder Martin und David Koutecký auf gleich zwei Etagen mit einer Mega-Monster-Installation vollgestopft; sie gleicht einer jugendfreien Version der Mammut-Müllberge des 2006 verstorbenen US-Künstlers Jason Rhoades.

 

Klischee-Wohnung eines Bohémiens

 

Im Erdgeschoss sollen ramponierte Stühle, Sofas und ein Billardtisch vom Trödler die Atmosphäre eines Kaffeehauses der Zwischenkriegszeit heraufbeschwören. Manches purzelt durch ein – bereits zuvor vorhandenes – Loch im Boden hinunter ins Untergeschoss, wo das komplette „Atelier des avantgardistischen Malers Žloutek samt seiner Wohnung, Küche und Toilette“ aufgebaut ist. Diese fiktive Figur soll nie ein Werk vollendet haben, bedient aber sämtliche Klischees vom verwahrlosten Bohémien; samt zerwühltem Bett, überbordendem Aschenbecher und verstaubtem Gerümpel in allen Ecken.

 

Kein Zweifel: Fajt weiß, wie man Hingucker inszeniert. Auch die Haupthalle des Lipsiusbaus füllt er mit überdimensionierten Werken, die Blicke auf sich ziehen. Allerdings erst hinter einer Querwand, die als Sichtsperre fungiert und dem „berühmtesten Künstler tschechischer Herkunft der Klassischen Moderne“ gewidmet ist: František Kupka, der ab 1894 meist in Frankreich lebte, fand über den Kubismus bereits 1912 zur Abstraktion – aber dafür nie annähernd so viel Anerkennung wie etwa Wassilij Kandinsky oder Piet Mondrian. An dessen strenge Bildgeometrie erinnern drei gezeigte Werke von Kupka. Doch dieser Akzent verhallt folgenlos.

 

Glühbirnen, Glas + Spiegel

 

Gegenüber hängen zwei monumentale Interieur-Wimmelbilder (2019/20) von Martin Mainer. Links zeigt ein Video, wie Peter Nikl bei der Ausstellungseröffnung vor Zuschauern mithilfe von Mini-Malautomaten ein Dripping-Bodenbild anfertigte. Dahinter geht es ähnlich wild bewegt zu: mit der fünf Meter hohen Skulptur „My Light is Your Life“ von Krištof Kintera. Er hat 2014 zahllose Glühbirnen und Lampen miteinander verkabelt; nun blinken die Leuchtmittel um die Wette und sollen an Umweltzerstörung durch Übertechnisierung gemahnen.

 

Daneben breitet der Glaskünstler Zdeněk Lhotský sein Sortiment aus: gläserne Stelen, Würfel und Schalen mit farbigen Einlagen – hübsch anzusehen, aber allenfalls gehobene Deko-Objekte. Alles andere als dekorativ sind hingegen die riesigen Aluminiumfolien, mit denen Magdalena Jetelová, die seit 1985 überwiegend in Deutschland lebt, den hinteren Teil der Halle verhängt hat: Schallwellen lassen diese dünnen Spiegel vibrieren, so dass sie Lichtstrahlen verwirrend verzerrt reflektieren.

 

Info-Vermittlung per Schnitzeljagd

 

Während also spektakuläre Kontraste den Hauptraum füllen, beanspruchen die Kabinette auf beiden Seiten, etwas mehr Systematik in die Sache zu bringen. Mittig empfangen kanonische Werke der Vorkriegsmoderne den Besucher; ringsherum sind Arbeiten zeitgenössischer Künstler aufgereiht, die sich laut Fajt darauf beziehen oder zumindest in dieser Tradition stehen. Dieses Schema wirkt auf Dauer arg rigide; reduziert es Gegenwartskünstler doch quasi auf die Rolle von kulturhistorischen Nachlassverwaltern ihrer Vorgänger.

 

Zumal der Kurator alle – wortreich ausformulierten – Informationen per Schnitzeljagd vermittelt: Erläuterungen zur Vorkriegsmoderne kleben vor den Exponaten auf dem Boden. Einige sind längst zum Buchstabenrätsel mutiert, weil sich etliche Lettern gelöst haben. Dagegen finden sich Angaben zu den Gegenwartskünstlern nur in einem kleinformatigen Gratis-Beiheft ohne Illustrationen, das recht improvisiert wirkt.

 

Neonskulptur von 1936

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Move little hands… „Move!" – herrlich versponnene Werkschau des tschechischen Surrealisten-Paars Jan und Eva Švankmajer im Lipsiusbau, Dresden

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Toyen" – großartige Retrospektive der tschechischen Surrealistin in der Hamburger Kunsthalle

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "Fantastische Frauen - Surreale Welten von Meret Oppenheim bis Frida Kahlo" mit Werken von Toyen in der Schirn Kunsthalle, Frankfurt am Main

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Tschechischer Kubismus im Alltag" über das Design der Artĕl-Kooperative 1908 bis 1935 im Grassi-Museum für angewandte Kunst, Leipzig

 

In der überbordenden Fülle der rund 250 Beiträge von 51 Künstlern drohen manche wegweisenden Arbeiten optisch unterzugehen. Etwa zwei Torsi aus transparentem Kunststoff, die Zdeněk Pešánek schon 1936 als Teile einer größeren Installation schuf: Darin leuchten farbige Neonröhren – Jahrzehnte vor den Neonskulpturen von Dan Flavin oder James Turrell, und wesentlich sinnlich ansprechender als jene. Oder Beispiele aus dem facettenreichen Werk von Toyen (Pseudonym von Marie Cerminová), die gemeinsam mit ihrem langjährigen Partner Jindřich Štyrský alle Spielarten des Surrealismus ausformulierte – und mit dem „Artifizialismus“ selbst eine schuf.

 

Überhaupt ist der von André Breton mit harter Hand geleitete Surrealismus neben dem Kubismus zweifellos die Strömung, welche die tschechische Kunst der letzten 100 Jahre am stärksten geprägt hat. Das lag an der engen Verbindung zur „École de Paris“ in der Vorkriegs- und der kulturellen Isolation der Nachkriegszeit. Im Kalten Krieg mangelte es an internationalen Impulsen, wie Fajt zurecht betont; also trieben nonkonformistische Ostblock-Künstler ihnen bekannte Richtungen weiter und bildeten auf diese Weise nationale Kunst-Stile aus, wie sie im Westen nach 1945 kaum noch existierten.

 

Hang zu Kunstgewerbe + Horrorkitsch

 

Doch seit dem Ende der Zweiteilung der Welt sind drei Jahrzehnte vergangen. Da würde man von tschechischer Gegenwartskunst mehr Variantenreichtum erwarten, als Fajt präsentiert. In seiner Zusammenstellung dominiert farbenfroh Figuratives: entweder lieblich mit Hang zum Kunstgewerbe wie etwa Blumenwiesen-Stickereien, oder effekthascherisch mit Tendenz zum Horrorkitsch. Und gern monumental, was in eng gehängten Kabinetten häufig schlecht zur Geltung kommt.

 

Diese etwas exzentrische Auswahl scheint vor allem dem persönlichen Geschmack des Kurators geschuldet zu sein. So verdienstvoll die SKD-Initative ist, den Blick nach Osteuropa zu richten: Der nächsten Station wäre eine Konzentration auf Wesentliches bei weniger einseitiger Ausrichtung zu wünschen.