Man soll kein Buch nach seinem Umschlag beurteilen, lautet ein englisches Sprichwort. In diesem Fall ist das anders: Auf dem Katalog –und dem Plakat – zur Ausstellung prangt ein Foto, das ausdrucksstärker und aufschlussreicher kaum sein könnte. Zu sehen ist das Schwarzweiß-Porträt einer jungen Frau im Halbprofil. Sie trägt Kurzhaarfrisur und ein kragenloses Hemd. Ihre Lippen sind geschlossen, ihr Kinn wirkt willensstark, fast schon herrisch. Am meisten beeindruckt aber ihr Blick: Unter buschigen Brauen scheinen die Augen etwas abseits des Bildes ruhig, aber unbeirrbar zu fixieren. Ein Feldherrenblick.
Info
Toyen
24.09.2921 - 13.02.2022
täglich außer montags
10 bis 18 Uhr
in der Hamburger Kunsthalle, Glockengießerwall 5, Hamburg
Katalog 39 €
Was Ihr denkt, ist mir egal
Sogar in den experimentierfreudigen Kreisen der Zwischenkriegszeit fiel ihr radikaler Wille zur Unabhängigkeit auf. Lange vor jeder Gender-Debatte sprach sie von sich in männlichen Verbformen – in slawischen Sprachen wird geschlechtsspezifisch konjugiert – und legte sich 1923 das Pseudonym „Toyen“ zu. Das leitete sie vom französischen Wort „citoyen“ ab – als geschlechtsneutraler Bezeichnung für alle Bürger. Dem entsprach ihr Auftreten, wie es ein Künstlerfreund schildert: Mit Baskenmütze, Hemd und Schlips, Zigarette im Mundwinkel und Händen in den Taschen habe sie mit jeder Faser signalisiert: „Was Ihr von mir denkt, ist mir egal.“
Feature zur Ausstellung. © Hamburger Kunsthalle
Surrealismus-Mitgründerin in CSR
Auch künstlerisch entzog sie sich jeder Kategorisierung. Einerseits schloss sie sich früh der surrealistischen Bewegung an, war eng mit André Breton befreundet und zählte 1934 zu den Gründungsmitgliedern der Surrealisten-Gruppe in der Tschechoslowakei – als eine von zwei Frauen neben neun Männern. Andererseits wechselte sie vorher und nachher ihre Malweise häufig, so dass sich mindestens ein halbes Dutzend Werkphasen unterscheiden lassen. Doch jeder von ihnen verlieh sie ihre sehr persönliche Handschrift. So viele verschiedene Einflüsse sie auch aufnahm und verarbeitete – nie wurde sie zur Kopistin von Vorbildern.
Ihr artistisches Einzelgängertum mag dazu beigetragen haben, dass sie nach ihrem Tod weitgehend vergessen wurde, zumal die meisten ihrer Werke in tschechischen und slowakischen Museen aufbewahrt werden. Hierzulande besitzt nur das Museum Bochum ein Werk von ihr, erworben 1978 für eine Gruppenschau. Ansonsten taucht Toyen allenfalls punktuell in Überblicksausstellungen auf, wie etwa „Fantastische Frauen“ über ihren Anteil am Surrealismus 2020 in der Frankfurter Schirn. Umso verdienstvoller ist die umfassende Retrospektive der Hamburger Kunsthalle, die sie gemeinsam mit der Nationalgalerie Prag und dem Musée d‘Art Moderne in Paris realisiert hat; dort wird die Schau ab Ende März gezeigt.
Artifizialismus mit giftigen Sprühfarben
Sie entfaltet detailreich, ohne überladen zu wirken, anhand von 300 Exponaten, darunter 100 Gemälden, alle Aspekte von Leben und Werk. 1923 tritt Toyen mit ihrem Freund Styrsky dem tschechoslowakischen Künstlerbund „Devetsil“ („Pestwurz“) bei, dessen Aktivitäten zwischen Dada, Kubismus und Konstruktivismus changieren. Entsprechend stilistisch breit gefächert fallen Toyens Arbeiten aus: von naiver Figuration, die an Henri Rousseau erinnert, bis zu strengen Abstraktionen.
Im selben Jahr tritt Toyen die erste von vielen ausgedehnten Reisen durch Süd- und Westeuropa an; dabei erfährt sie nicht nur zahllose Anregungen, die sich in ihrem Werk niederschlagen, sondern baut auch ein Netzwerk künstlerisch Gleichgesinnter auf, dass sie ihr Leben lang tragen wird. 1927 veröffentlicht sie mit Styrsky ein Manifest des „Artifizialismus“. Beide verbinden abstrakte Formen mit surrealistischen Kompositionen und stürzen sich in kühne Experimente; so fertigen sie etwa mit giftigen Sprühfarben, bei deren Verwendung sie Gasmasken tragen müssen, dekorative Textilien an.
Pansexuelle Unterwasserlandschaften
Ab Anfang der 1930er Jahren wird Toyens Bildsprache dezidiert surrealistisch; es entstehen Schlüsselwerke wie „Die magnetische Frau“ (1934) oder „Die Stimme des Waldes II“, das sie 1935 André Breton schenkt. Viele ihrer Bilder dieser Phase verbinden stilisierte Formen von Lebewesen mit schrundig aufgebrochenen Rissen, die an Verwitterung und Verfall denken lassen. Zuweilen ähnelt das der Motivwelt von René Magritte, die allen möglichen Alterungsprozessen ausgesetzt worden ist.
Andere Gemälde wirken wie bizarre Unterwasserlandschaften in verführerisch intensiven Farbkontrasten voller pansexueller Mollusken, die sich in allseitiger Erregung umeinander schlingen. In dieser Phase fertigt Toyen auch Illustrationen für die Werke des Marquis de Sade an. Diese erotischen Zeichnungen breitet die Schau in einem separaten Kabinett aus; im Vergleich zu den wild wuchernden Fantasien ihres Surrealisten-Freundes Yves Tanguy erscheinen die von Toyen aber eher zahm.
Lebensabend in Bretons Atelier
Der Einmarsch der Wehrmacht 1939 bedeutet auch für Toyen einen radikalen Einschnitt. Die Surrealisten gehen in den Untergrund; sie wird ab 1941 im Badezimmer ihrer kleinen Wohnung ihren jüdischen Freund Jindrich Heisler verstecken. Im Folgejahr stirbt Styrsky, was Toyen tief trifft. Auf ihren Bildern in fahlen Farben dominieren nun ausgemergelte Phantome in endloser Reihe – oder ein zweidimensionaler Wandbild-Wolf zerfleischt einen dreidimensionalen Vogel („Im Schloss La Coste“, 1943).
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Move little hands… „Move!" – herrlich versponnene Werkschau des tschechischen Surrealisten-Paars Jan + Eva Švankmajer im Lipsiusbau, Dresden
und hier eine Besprechung der Ausstellung "Fantastische Frauen - Surreale Welten von Meret Oppenheim bis Frida Kahlo" mit Werken von Toyen in der Schirn Kunsthalle, Frankfurt am Main
und hier ein Beitrag über die Ausstellung "Art et Liberté – Umbruch, Krieg und Surrealismus in Ägypten (1938-1948)" - eindrucksvolle Überblicks-Schau im K 20, Düsseldorf.
Neue Prachtentfaltung
Ihr Werk der 1950/60er ist geprägt durch eine bis dahin ungekannte Prachtentfaltung. Große Formate, intensiv leuchtende Farben und zwischen Fülle und Leere souverän ausbalancierte Kompositionen lassen die Gemälde durchaus dekorativ, zuweilen glamourös wirken. Etwa die famose Serie „Die sieben gezogenen Schwerter“ zu Gedichten von Georges Goldfayn: Auf Hochformaten deuten delikate Gaze-Schleier vor dunklem Hintergrund die Silhouetten von Frauen an. Ihre nur erahnbare Präsenz wird durch angedeutete Körperteile zusätzlich akzentuiert.
1969 löst sich die Pariser Surrealisten-Gruppe auf; zwei Jahre darauf malt Toyen ihr letztes Ölbild. Die sinnlich-poetischen Verrätselungen des Surrealismus sind aus der Mode gekommen; der Zeitgeist verlangt nach greifbaren Eindeutigkeiten der Pop Art oder den kühlen Theorie-Kalkülen der Konzeptkunst.
Doppel-Renaissance erwünscht
Davon hat sich der Surrealismus bis heute nicht erholt; Traumgebilde und Unterbewusstes zählen im durchökonomisierten Zeitalter digitaler Globalierung wenig. Obwohl sie wichtige Aspekte der Humanität beleuchten: Es wäre zu wünschen, dass diese exzellente Retrospektive von Toyen auch zur Renaissance des Surrealismus insgesamt beiträgt. So abgenutzt der Begriff „Wiederentdeckung“ inzwischen scheint – hier ist er absolut angebracht.