Ein venezianisches Gipfeltreffen lockt italienbegeisterte Kunstfreunde nach München. Tizian, Giorgione, Bellini sind nur die schillerndsten Namen auf der Bühne in der Alten Pinakothek für Malerstars, die schon zu ihren Lebzeiten umschwärmt waren. Neben Werken aus eigenen Bestände versammelt die Pinakothek 70 internationale Leihgaben für ein Panorama der Kunst um 1500. Die Auswahl konzentriert sich auf Porträts und Landschaften, die alle in oder für Venedig entstanden sind.
Info
Venezia 500<< – Die sanfte Revolution der venezianischen Malerei
27.10.2023 - 04.02.2024
täglich außer montags 10 bis 18 Uhr,
dienstags + mittwochs bis 20 Uhr
in der Alten Pinakothek, Barer Straße 27, München
Katalog 39 €
Weitere Informationen zur Ausstellung
Reiz des Vielsagenden + Vagen
Gerade im Vielsagenden und Vagen liegt der berückende sinnliche Reiz dieser Gemälde. Über ihre auch intellektuellen Tiefen und Untiefen nachzusinnen, gefiel den Zeitgenossen um 1500. Im kultivierten Gespräch mit Gleichgesinnten tauschte man sich aus. Die Ausstellung „Venezia 500<<“ animiert dazu, es ihnen nachzutun. Der Titel greift den italienischen Jahrhundertbegriff fürs cinquecento auf: so nennt man das 16. Jahrhundert.
Feature zur Ausstellung; © Pinakotheken
Eskapismus-Strategie: auf nach Arkadien
Wer sich den Meisterwerken von Giorgione bis Tintoretto als Detektiv nähert, um die Bildinhalte wie Rätselaufgaben zu entschlüsseln, ist auf dem Holzweg. Die Künstler legten es darauf an, das Poetische im Uneindeutigen zu verorten und Spielraum für Spekulationen zu schaffen – so die aktuelle Meinung der Forschung. Empfindsamkeit war angesagt. Dazu motivierten Krisenzeiten in der Lagunenstadt: Kriege und Epidemien setzten dem reichen, stolzen Venedig zu. Der trüben Gegenwart in Welten poetischer Imagination zu entfliehen: Diese Eskapismus-Strategie kommt bei der heutigen Weltlage gerade recht.
Also auf nach Arkadien, zum Beispiel. Das vielbesungene Sehnsuchtsland der Antike stellte man sich um 1500 als ländliches Gefilde mit flötenden Hirten und poetisch-müßigem Nichtstun vor, verkürzt gesagt. Ein winziges Ölbild des in der Schau hervorragend vertretenen Venezianers Palma il Vecchio (1480-1528) führt dieses Ideal vor Augen. Der zartgliedrige Hirtenknabe Daphnis präsentiert sich unverkrampft hüllenlos und ist in eine traumschöne Landschaft eingebettet: ein gemaltes Gedicht, vibrierend vor Homoerotik.
Sinnlicher Jüngling + kantiger Doge
Tatsächlich gaben sich junge Venezianer aus der gebildeten Oberschicht auch in der Porträtmalerei nun plötzlich sanftmütig, ja sinnlich. Man blickte sehnsuchtsvoll in die Ferne oder kehrte den Blick versonnen nach innen. Ob ein Porträt oder ein antiker Götterknabe dargestellt ist, lässt sich oft gar nicht entscheiden. Ein gelockter Jüngling dreht einen Pfeil in der Hand. Droht süßer Liebesschmerz? Gemalt hat ihn Giorgione (1478-1510), der große Neuerer dieser Ära. Über sein Leben weiß man wenig – doch beim Entstehen dieses neuen, lyrischen Porträt-Typs war er federführend. Im Vergleich zu früheren Bildnissen aus der Lagunenstadt wird dies klar.
Ein Kabinett versammelt vor würdig schwarzen Wänden die venezianischen Nobili der älteren Generation. Der auf Lebenszeit gewählte Doge Cristoforo Moro zeigt sich mit seiner Amtskappe aus teurem Brokat wie in Marmor gemeißelt. Seine Stirnadern und Altersfalten treten scharf hervor: kein Weichzeichnereffekt, sondern Realpolitik in Person. Man verkniff sich alles Gefühlige. Es galt, das Persönliche zurückzustellen und den Staat zu repräsentieren, die offzielle Rolle.
Einfluss altniederländischer Malerei
Auf ihr fein austariertes Regierungssystem war die Republik Venedig stolz. Auch ein blutjunger Senator mit modisch blondem Haar, makellos frisiert und glattrasiert, zeigt keinerlei emotionale Regung, sondern pokerface. Der Einfluss nordeuropäischer, insbesondere niederländischer Malerei auf diese Art der venezianischen Porträtkunst veranschaulicht ein miniaturhaft feines Meisterbildnis von Hans Memling (1433/40-1494); es zeigt den venezianischen Gesandten Bernardo Bembo. Die internationalen Kontakte der Handelsdrehscheibe Venedig beförderten den Kulturtransfer.
Auch innerhalb der Lagunenstadt schaute sich einer gern etwas vom anderen ab. Die jungen Neuerer Tizian (1488/90-1576) und Giorgione konkurrierten miteinander. Selbst der alte Meister Giovanni Bellini (1437-1516) war offen für neue Anregungen. Von ihm sind etwa vier rätselhafte Allegorien zu sehen, darunter die „Malinconia“ (Melancholie) aus der „Gallerie dell‘ Accademia“ in Venedig. Die Nachdenkliche schippert vor sehnsuchtsvoll glühendem Sonnenuntergang durch dunkle Gewässer in einem flachen Kahn – die Putten, die sie begleiten, flöten und planschen fröhlich.
Natur als Stimmungsträger + Resonanzraum
Besonders eindrucksvoll: Bellinis lesender „Hieronymus im Freien“ bekommt Gesellschaft durch ein motivgleiches Bild von Cima da Conegliano (1460-1517/8). Beide platzieren den Asketen, gewandet in leuchtendes Ultramarin, bei entspannter Bibellektüre zwischen schroff aufragende Felsen. Trotz winzigen Formats sind diese beiden Arbeiten Publikums-Magneten im Themenraum mit religiösen Werken. Sie entfalten eine unglaubliche Weite und Poesie der Landschaft, die seinerzeit völlig neu war.
Tatsächlich zählt Natur, aufgefasst als Stimmungsträger und Resonanzraum, zu den großen Innovationen der venezianischen Malerei. Als Auftakt der Schau ist eine kostbare Federzeichnung von Tizian zu sehen. Darauf hält der Meister eine schnöde Baumgruppe sensibel und präzise fest. Eigentlich kennt man Tizian eher als Figurenmaler, doch hier vertieft er sich in feines Blattwerk, wirres Geäst und knorrige Rinde – vielleicht von der Akribie eines Albrecht Dürer (1471-1528) zu höchster Präzision angefeuert? Der Nürnberger suchte zwei Mal den Austausch mit Kollegen in Venedig; dafür nahm er die strapaziöse Alpentour auf sich.
Bildnisse von Gefühlen + Gedanken
Das steinerne Venedig selbst taucht nirgends in den Bildern auf. Mehr als das Häusermeer beschäftigte die Maler die Mannigfaltigkeit ihrer Bewohner. Laut Giorgio Vasari (1511-1574), dem Pionier der Kunstgeschichtsschreibung, waren in nahezu jedem venezianischen Haus Porträts der Familienmitglieder anzutreffen – je nobler, desto mehr. Ein ausdrucksstarkes Beispiel dafür in der Ausstellung stammt von Lorenzo Lotto (1480-1557). Er nahm es mit seinem Gegenüber sehr genau: Da ist die leicht gerötete Haut auf dem Nasenrücken. Ein schimmerndes Fast-Nichts von Tränenflüssigkeit am unteren Rand des Auges. Der Widerschein eines Fensters in der Pupille.
Doch nicht dieser verblüffende Verismus macht die Faszination des kleinen Werks aus. Wie durch ein Fenster blickt der unbekannte Dargestellte aus seinem Goldrahmen ins Hier und Jetzt: von Gegenwart zu Gegenwart. Man meint, einen Menschen mit Gefühlen und Gedanken vor sich zu haben. Gerade darin lag etwas revolutionär Neues. Das Psychologische rückte in die Porträtmalerei ein – venezianische Künstler entwickelten dafür weitaus früher als andernorts in Europa einen Sinn.
Bastard-Familienbild für die Erbfolge
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Tiepolo – Der beste Maler Venedigs" – große Werkschau in der Staatsgalerie, Stuttgart
und hier eine Besprechung der Ausstellung "Tizian und die Renaissance in Venedig" – umfassende Übersichtsschau im Städel Museum, Frankfurt
und hier einen Bericht über die Ausstellung "Mantegna und Bellini – Meister der Renaissance" mit etlichen Hauptwerken des Venezianers Giovanni Bellini in der Gemäldegalerie, Berlin
und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Tintoretto – A star was born" – originelle Retrospektive des Frühwerks des venezianischen Malers im Wallraf-Richartz-Museum, Köln.
Die Schlüsselfigur im Bild ist ein drei- oder vierjähriger Junge. Mit diesem illegitimen Sprössling überraschte die Mutter ihren Ehemann Carlo Antonio Maggi, als er von einer langen, abenteuerlichen Orientreise nach Venedig zurückkehrte. Doch er erkannte den Kleinen als Sohn an, was für Unmut in der weiteren Familie sorgte – das Gemälde bekräftigte die Erbfolge. Eine Prachthandschrift zu diesem Familienkrimi wird ebenfalls ausgestellt.
Doppelporträt als neuer Giorgione
Noch spektakulärer aber ist: Ein neues Werk von Giorgione darf bewundert werden. Es wird dem Meister eindeutig zugeschrieben. Tatsächlich sind von diesem Maler weltweit nur wenige Werke erhalten: 28 Gemälde gelten als gesichert von seiner Hand, etwa halb so viele werden ihm zugeschrieben, sechs sind umstritten. Umso mehr freut sich das Münchener Museum, dass es auch die Dargestellten identifizieren konnte. Zwei Männer, alt und jung, begegnen sich auf dem farblich exquisiten Gemälde.
Der buchstäblich große Kopf im Bild, mit Quadratschädel und Doppelkinn, ist ein Universalgelehrter namens Trifone Gabriele. Er hantiert mit einem astronomischen Gerät. Sein halbwüchsiger Schüler hält sich bewundernd im Hintergrund. Alle Indizien passen zusammen; sogar das Alter der Abgebildeten stimmt mit den Quellen überein. Unter dem Lehrer-Schüler-Bildnis verborgen aber liegt, von Restauratoren per Röntgen- und UV-Licht enthüllt, eine Landschaft mit nackten Figuren. Ähnlich wie in Giorgiones berühmtestem Werk, „La Tempesta“ („Das Gewitter“, 1508), das in der Accademia hängt.
Malerei, die Sehnsucht weckt
Sie waren lange nicht in Venedig? Womöglich noch nie? Diese Ausstellung kann Sehnsucht auslösen. Genau für diese Gefühlstonlage waren die venezianischen Maler bekannt, und das reizten sie aus. Sie wollten Sehnsucht wecken: nach der unerfüllbaren Liebe, nach der nie erreichten Schönheit, dem verschwundenen Paradies und imaginären Arkadien. Nichts wie hin!