München

Orhan Pamuk – Der Trost der Dinge

Orhan Pamuk: Ganglien / Ganglia, 2024 © Orhan Pamuk. Fotoquelle: Städtische Galerie im Lenbachhaus, München
Erinnerungen eines Verliebten, in Schaukästen gegossen: Orhan Pamuk, Nobelpreisträger von 2006, hat seinen Roman „Museum der Unschuld“ in ein Defilee aus 40 Dioramen verwandelt – ergänzt um Malerei von eigener Hand. Sein kunstvolles Verwirrspiel mit Imagination und Realität ist im Lenbachhaus zu sehen.

Können Dinge uns trösten? Der türkische Schriftsteller Orhan Pamuk ist davon überzeugt. Wie sehr er der Aura und dem Eigensinn alltäglicher Gegenstände nachspürt und vertraut, zeigt eine Wanderausstellung, die nach der ersten deutschen Station in Dresden nun in München zu sehen ist. Sie liefert jede Menge Anschauungsmaterial für Fans der meist dickleibigen, erzählfreudigen Romane des Literatur-Nobelpreisträgers von 2006.

 

 

Orhan Pamuk – Der Trost der Dinge

 

18.5.2024 – 13.10.2024

 

täglich außer montags 10 bis 18 Uhr,

donnerstags bis 20 Uhr

in der Städtischen Galerie im Lenbachhaus, Luisenstraße 33, München

 

Katalog  33 €

 

Weitere Informationen zur Ausstellung

 

Hier darf man eintauchen in das Wort- und Bilder-Universum eines Autors, dessen Werke oft kunstsinnige Fäden durch die Kulturgeschichte zwischen der Türkei und Europa ziehen; mit fast soziologischem Interesse schildern sie auch immer einen Teil des Austauschs zwischen Orient und Okzident. Dabei verschränkt Pamuk gekonnt Fiktives und Reales miteinander. Das ist auch der Clou dieser Schau: einer wahren Kunst- und Wunderkammer mit surrealem Einschlag und tiefgründiger Vielschichtigkeit. Hereinspaziert!

 

Museum 2012 in Istanbul eröffnet

 

Mit dieser Ausstellung schickt Pamuk ein Museum auf Reisen, das er selbst geschaffen und 2012 in seiner Heimatstadt Istanbul eröffnet hat. Ein mehrstöckiges Wohnhaus im Stadtteil Çukurcuma verwandelte er in das „Museum der Unschuld“. Es basiert auf seinem gleichnamigen Roman, einer tragischen Liebesgeschichte; mittlerweile gilt es als touristische Sehenswürdigkeit.

Feature zur Ausstellung. © Lenbachhaus


 

Shopping im Şanzelize-Laden

 

Das skurrile Museum ist vollgestopft mit Gegenständen aus dem halben Jahrhundert zwischen 1950 und 2000; von der Zahnbürste bis zum gebrochenen Porzellanherz, die sich in „Kabinetten“ zu wundersamen Dioramen fügen. 40 davon sind im Lenbachhaus ausgestellt, ergänzt durch eine Reihe neu entstandener Schaukästen. Für sie ließ sich Pamuk von Kunstwerken aus der Dresdener und der Münchener Sammlung inspirieren. Die gute Nachricht vorweg: Niemand muss den Roman gelesen haben, um an dieser Ausstellung sein Vergnügen zu haben.

 

Ein zartgelber Damenschuh prangt im ersten Schaukasten nebst einer eleganten Handtasche unter dem Boutique-Ladenschild „Şanzelize“, sprich: „Champs-Élysées“. Mit dieser frankophilen Tasche beginnt im Roman die schicksalhafte Begegnung des schwerreichen Industriellensohns Kemal mit dem Ladenmädchen Füsun. Obwohl er eigentlich kurz vor seiner standesgemäßen Verlobung mit einer anderen steht, verliebt er sich unsterblich in Füsun, und die Handlung nimmt ihren Lauf.

 

Roman als Museumsführer in Erzählform

 

Dass der Held später obsessiv all jene Dinge zu sammeln beginnt, die seine Angebetete einmal berührt, besessen, benutzt hat, wird zur Gründungslegende des „Museums der Unschuld“, das angeblich in Füsuns ehemaligem Wohnhaus untergebracht ist. Kapitel für Kapitel gibt sich der Roman als Museumsführer in Erzählform aus. Als das Buch 2008 erschien, war Pamuks frei erfundenes Museum allerdings noch längst nicht fertig.

 

Etliche Jahre bastelte er daran herum, um Hunderte von kleinen Dingen zu rätselhaft-poetischen Assemblagen zu arrangieren. Jeder Schaukasten ist eine Welt für sich; mal verträumt, mal mit sanftem Witz, mal unheimlich. Da begegnet in bester Surrealisten-Manier eine Nähmaschine einer prallen roten Frucht und einer Aufziehkatze. Ein nackter Puppenarm schwebt über einem Schachbrett neben dem altmodischen Porzellangriff einer Klospülung. Drei kitschige Kaffeetassen geben sich vor vergilbten Filmprogrammen türkischer Schnulzen ein Stelldichein.

 

Rakı als Liebesschmerz-Betäubungsmittel

 

Die Überfülle der Dinge: Was Pamuk auf Flohmärkten gefunden und was er eigens hergestellt hat, bleibt offen – es spielt auch keine Rolle. Hauptsache, die Symbolik erschließt sich: Neben einem weißen Damenslip und einer saftigen Feige schnäbeln zwei Tauben auf einer Miniatur im arabischen Stil. Daneben steht ein hohes Glas voll milchweißer Flüssigkeit: das allgegenwärtige Liebesschmerz-Betäubungsmittel Rakı.

 

Verblüffenderweise drängen sich alle 40 Dioramen als Kern der Ausstellung in nur zwei kleinen Räumen, die sich im dämmrigen Schummerlicht geheimnisvoll präsentieren. Wer hier die Spur der teils winzigen Artefakte nachverfolgt, kann lange verweilen. Ganze Welten en miniature tun sich hier auf – poetisch verknappt wie Gedichte.

 

Weitschweifiges grafisches Werk

 

Weitläufiger, oder eher: weitschweifiger, gestaltet sich allerdings der zweite Teil der Schau. Hier breitet Pamuk sein grafisches Werk aus: Zeichnungen, bunte Aquarelle, bebilderte Notizbücher und figurenreiche Leporelli. Dazu gibt’s gefilmte und fotografierte Einblicke in seinen Arbeitsalltag und seine Dichterklause mit Blick auf den Bosporus; etwa vier Mal die malerische Aussicht auf die nahe Cihangir-Moschee und das Meer.

 

Gemaltes und Begleittexte sind in all diesen Arbeiten untrennbar; das gehört zu Pamuks Eigenheiten. Nach eigenen Worten wurde er schon als Schulkind von der Lehrerin getadelt, weil er seine Bilder immer mit Worten beschriftete. Später träumte er als junger Mann davon, Maler zu werden. Seit einigen Jahren gibt er diesem Wunsch nach – und zeigt nun seine Pinselkünste der Öffentlichkeit. Aber ist das große Kunst? Nicht wirklich. Immerhin steht Pamuk dazu, Amateurmaler zu sein, und bewahrt sich die naive Frische seines Zugriffs auf die Wirklichkeit.

 

Eitle Fotos von Schreibtisch-Chaos

 

Mal verewigt er bei Essen im Freundeskreis die Anwesenden auf Ausklappbildern. Oder er hält Möwen fest, in luftig-spielerischer Hängung an der Wand. Ganz nett wirken die Vögel, lebensgroß und realistisch aufs Blatt gebracht – aber auch etwas belanglos. Immerhin begreift man, dass dieser Schriftsteller Bildliches stets mitdenkt und bei ihm beides ineinander greift.

 

Autoren-Eitelkeit ist deutlich spürbar im Spiel, wenn er etwa auf zahllosen Handyfotos das Durcheinander auf dem eigenen Schreibtisch ablichtet. In diesem Chaos fällt immer wieder die Armbanduhr auf, ein Fixpunkt: Sie bringt den Gedanken der vergehenden Zeit ein. Wie sehr die Melancholie der Nostalgie den Autor umtreibt, ist auch an den Schaukästen seines „Museums der Unschuld“ ablesbar.

 

Roman-Gegenstände werden Wirklichkeit

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Ara Güler - Das Auge Istanbuls: Retrospektive von 1950 bis 2005" – umfassende Werkschau des mit Orhan Pamuk befreundeten Fotografen im Willy-Brandt-Haus, Berlin

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Es war einmal in…– Fotografien von Nuri Bilge Ceylan" mit grandiosen Anatolien-Fotografien des türkischen Filmregisseurs im Kunsthaus, Nürnberg

 

und hier einen Beitrag über den Film "Remake, Remix, Rip-Off" – großartige Doku über Yeşilçam-Kopierkultur und das türkische Pop-Kino von Cem Kaya

 

und hier einen Bericht über den Film "Liebe, D-Mark und Tod – Aşk, Mark ve Ölüm" – faszinierende Doku über die Geschichte deutschtürkischer Popmusik von Cem Kaya.

 

Dort jedoch zeigt der Schriftsteller sich als Künstler mit persönlicher Handschrift, die nichts Dilettantisches hat. Mit den poetischen Dioramen hat Orhan Pamuk eine eigene Ausdrucksform gefunden. Dabei ließ er sich nicht nur von Anregungen aus Dada und Surrealismus leiten, sondern auch von eigenen Kindheits-Erinnerungen. Der 1951 geborene Schriftsteller entstammt derselben feinen Istanbuler Gesellschaft wie sein verliebter Romanheld Kemal.

 

Wer das 570-Seiten-Werk durchgelesen hat, dem beschert der Rundgang eine eigentümliche Erfahrung. Die fiktiven Gegenstände der frei erfundenen Romanhandlung begegnen einem unverhofft als greifbare Wirklichkeit: als offenkundig benutzte Dinge. Kann das sein? Es ist, als würde man aus einem nächtlichen Traum erwachen – und plötzlich die geträumte Rose auf dem Nachttisch vorfinden. So gelingt Orhan Pamuk ein kunstvolles Verwirrspiel mit Imagination, Erinnerung und Realität.

 

Vanitas-Symbol des Kette-Rauchens

 

Am Ende bleibt das vage Gefühl, das Istanbul der 1950er bis 1970er Jahre besucht zu haben: die Vorortkinos und schicken Restaurants, die Wohnzimmer der Wohlhabenden und die der einfache Leute. Ihre Träume und Sehnsüchte sind in den Artefakten der Dioramen, so scheint es, noch immer enthalten.

 

Darauf einen Rakı: Im Roman spricht der unglückliche Kemal dem Nationalgetränk reichlich zu. Geraucht wird ebenfalls Kette: Genau 4.213 Glimmstängel, die seine Angebetete im Ascher ausdrückte, nahm der Verliebte heimlich mit, heißt es. Einige davon sind ebenfalls ausgestellt: als modernes Vanitas-Symbol, wie einst auf niederländischen Stillleben die verlöschte Kerze.