Berlin + Münster

Homosexualität_en

Heather Cassils: Homage to Benglis (Detail), 2011, c-print, 40 x 30 inches, edition of 3. Fotoquelle: DHM
Die ganze Bewegung soll es sein: Erstmals seit 34 Jahren ist sexuellen Minderheiten eine Doppel-Ausstellung gewidmet. Das Deutsche Historische Museum ignoriert Fragen der Hetero-Mehrheit; das Schwule Museum zeigt explizite Kunst zu Geschlechter-Themen.

Selbstdarstellung als Materialschlacht

 

Detailverliebt ausgestattet sind dagegen der „Rosa Winkel“ zum Gedenken an Opfer von NS-Verfolgung und die coming out-Kleiderkammer zu schwullesbischen dress codes mit fantasievollen Fummeln und anderen accessoires – hier toben sich Spiel- und Schaulust aus. Womit klar wird, dass sich die Ausstellung vorwiegend an die eigene community richtet, quasi als Triumphzug: Endlich haben wir auch diesen staatstragenden Hochkultur-Tempel erobert!

 

Dabei geht die Freude an der Selbstdarstellung ein Bündnis mit der unseligen DHM-Tradition ein, komplexe Themen in ermüdenden Materialschlachten zu begraben. Zwar behauptet die Schau, sie richte an jedermann – doch sie vergibt die Chance, der heterosexuellen Mehrheit Grundlagenwissen zu vermitteln: Durch welche Faktoren könnte Homosexualität bedingt sein? Was sind psychologische und kulturelle Auslöser von Homophobie? Und wie lässt sich das Gebot sexueller Toleranz nicht nur diktieren, sondern auch unwiderleglich begründen?

 

Bei sexueller Orientierung geht’s um Sex

 

Solche basics ignorieren die Macher offenbar, weil sie sich wie selbstverständlich im LGBTIQ-Kosmos bewegen; vielleicht wäre diese Mammutschau besser von Heteros kuratiert worden. Paradoxerweise kommen einfache, aber essentielle Fragen eher im Schwulen Museum zur Geltung: Der zweite Ausstellungs-Teil umfasst Werke zeitgenössischer Künstler zu heutigen Geschlechter-Verhältnissen.

 

Dieses multimediale Bildergewitter wirkt nach Vitrinen-Flachware und Bleiwüsten im DHM ungemein belebend; immerhin geht es bei sexueller Orientierung zuvörderst um Sex. Der stets im Kopf des Betrachters entsteht, wie alte Kurzfilme von Andy Warhol mustergültig illustrieren. Warum ein Jünglings-Kopf stöhnt, verrät nur der Filmtitel „Blow Job“; wie Mario Montez eine Banane lutscht und knabbert, kommt ohne Worte aus.

 

Explizites, ohne pornographisch zu werden

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Der Kreis" - gelungenes Doku-Drama über Zürich als Schwulen- Mekka Europas in den 1950/60er Jahren von Stefan Haupt

 

und hier einen Artikel über den Film “Laurence Anyways”romantisches Drama aus Kanada über Transsexualität von Xavier Dolan

 

und hier einen Bericht über den Film “Parada” - originelle serbische Gay-Pride-Komödie von Srdan Dragojević

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Jean Genet – Hommage zum 100. Geburtstag" des Skandal-Schriftstellers im Schwulen Museum, Berlin

 

und hier einen Beitrag über die Doku "Call Me Kuchu" über Homophobie + Gay Pride in Afrika von Katherine Fairfax Wright + Malika Zouhali-Worrall.

 

Scherenschnitte von Stefan Thiel zeigen Explizites in größtmöglicher Abstraktion; eine Zusammenstellung von Sexfilm-Szenen alle denkbaren Praktiken, ohne je pornographisch zu werden. Wie eine wandfüllende Collage von Henrik Olesen: Etliche männliche Akte könnten auf zimperliche Gemüter aufreizend wirken – dabei handelt es sich ausnahmslos um Meisterwerke der Kunstgeschichte.

 

Mehrere Fotoserien – Frauen von Goodyn Green, Männer von Paula Winkler, homosexuelle Paare von Alexa Vachon – führen ausgiebig vor, wie unendlich vielfältig und wandelbar Selbstverständnis und -darstellung bei beiden Geschlechtern sind; diese Anschauung bedarf keines verquasten gender-Räsonnements. Soweit der status quo; darüber hinaus fällt dem Schwulen Museum nur ein, queere Berliner in Video-Interviews ihre Zukunftspläne ausmalen zu lassen.

 

Lesben-Diskriminierung durch Schwule

 

Darin zeigt sich ein Rückzug ins Private, der gegenwärtig die schwullesbische Bewegung wie die Gesamtgesellschaft prägt. Je mehr sie sexuelle Minderheiten akzeptiert, desto stärker differenzieren sich diese aus und banalisieren sich, so dass man kaum noch von einer Bewegung sprechen kann: Ein Siemens-Angestellter und ein multipel benachteiligter Stricher mit Migrationshintergrund haben keine gemeinsamen Interessen – außer beim Stelldichein in der cruising bar.

 

In einschlägigen Magazinen wie der Berliner „Siegessäule“ wird bereits über die Diskriminierung von Lesben durch Schwule geklagt – als Spiegelbild des alltäglichen Sexismus. Ohnehin fühlen sich LGBTIQ-Aktivisten an politische Ränder oder in akademische Nischen abgedrängt: In der Öffentlichkeit dominieren gutbürgerliche Damen und Herren, die zufällig gleichgeschlechtliche Neigungen haben.

 

Schwuchtel-Hatz geht weiter

 

Wenn sie bald sämtliche zivilen Rechte wie Eheschließung und Adoption genießen, werden die wilden Jahre endgültig vorbei sein: Dann hat sich abermals eine Emanzipations-Bewegung zu Tode gesiegt. Und hartleibige Proleten auf Schulhöfen und in Vorstadt-Ghettos werden weiterhin ihre Aggressionen an „Schwuchteln“ auslassen – ob sie von LGBTIQ gehört haben oder nicht.