Mannheim + Mülheim an der Ruhr

Hannah Höch: Revolutionärin der Kunst – Das Werk nach 1945

Hannah Höch (1889-1978): Roma (Stummfilm-Star Asta Nielsen weist Mussolini aus der Stadt hinaus), 1925, Öl auf Leinwand, 90 x 106 cm © Berlinische Galerie - Landesmuseum für Moderne Kunst, Fotografie und Architektur © VG Bild-Kunst, Bonn 2016. Fotoquelle: Kunsthalle Mannheim
Die erste Dadaistin: Mit der Erfindung der Foto-Collage prägte Hannah Höch die Kunst des 20. Jahrhunderts. Ihr umfangreiches, so vielseitiges wie fantasievolles Spätwerk ab 1945 ist weniger bekannt – Kunsthalle und Kunstmuseum laden zur Neuentdeckung ein.

Die bekannte Unbekannte: Jede Kunstgeschichte des 20. Jahrhundert würdigt Hannah Höch (1889-1978) auf den ersten Seiten – für ihren Beitrag zum Dadaismus. Damit allein wird man jedoch ihrem Lebenswerk nicht gerecht: Bis ins hohe Alter blieb sie unvermindert produktiv. Als Zeitzeugin von vier Staatsformen war sie allen Stürmen des 20. Jahrhunderts ausgesetzt; damit setzte sie sich in ihren Arbeiten so fantasievoll wie abwechslungsreich auseinander.

 

Info

 

Hannah Höch: Revolutionärin der Kunst - Das Werk nach 1945

 

22.04.2016 - 14.08.2016

täglich außer montags

11 bis 18 Uhr,
mittwochs bis 20 Uhr in der Kunsthalle Mannheim, Friedrichsplatz 4, Mannheim

 

Katalog 34 €

 

Weitere Informationen

 

11.09.2016 - 08.01.2017

täglich außer montags

11 bis 18 Uhr

im Kunstmuseum Mülheim, Synagogenplatz 1,
Mülheim an der Ruhr

 

Weitere Informationen

 

Insofern leuchtet der Ansatz dieser Schau, die nach dem Auftakt in Mannheim nach Mülheim an der Ruhr wandert, sofort ein: Trotz des 100. Jahrestags der 1916 in Zürich gegründeten Dada-Bewegung fokussiert sie nicht auf Höchs Anfänge, sondern breitet ihr umfangreiches Spätwerk ab 1945 in allen Facetten aus. Dabei werden Arbeiten, die zuvor entstanden, in lockerer Folge gleichsam als Belegstücke für künstlerische Kontinuität eingestreut.

 

Pionierin der Fluxus-Kunst

 

Ob diese Ausstellung wirklich „die erste umfassende Retrospektive über das Werk von Hannah Höch nach dem Zweiten Weltkrieg“ ist, wie die Kunsthalle Mannheim versichert? Immerhin war Höch nach langen Jahren der Isolation in ihrem Gartenhaus in Berlin-Heiligensee ab den 1960er Jahren von jungen Fluxus-Künstlern wie Nam June Paik und Wolf Vostell als Pionierin gewürdigt worden.

 

Es folgten Auszeichnungen wie eine Ehrenprofessur und ausführliche Werkschauen, darunter 1976 in der Neuen Nationalgalerie. Auch in den letzten zehn Jahren wurden ihr mehrere große Ausstellungen gewidmet, etwa 2007 in der Berlinischen Galerie.

Engl. Feature über Hannah Höchs Schlüsselwerk "Schnitt mit dem Küchenmesser"; © Smarthistory


 

Wimmelbilder einer Grenzverwischerin

 

Gleichviel: Diese Präsentation ist eine glänzende Gelegenheit, ihr gesamtes Œuvre kennen zu lernen – in all seiner faszinierenden wie verwirrenden Vielseitigkeit. Getreu ihrem „künstlerischen Credo“ von 1949: „ich möchte die festen grenzen verwischen…“ hat sich Höch nie auf einen bestimmten Stil festgelegt. Stattdessen ließ sie sich von diversen ästhetischen Strömungen der jeweiligen Epoche anregen.

 

Sie bediente sich nach Herzenslust bei Konstruktivismus, Surrealismus, Abstraktion, Informel und sogar Pop Art – und verlieh doch jeder Arbeit ihre unverwechselbare Handschrift. Wenn dieses in alle Richtungen ausgreifende Werk überhaupt etwas eint, dann am ehesten ein Hang zur kleinteiligen Wimmelbild. Klare Konturen sind selten; gibt es ein zentrales Motiv, wird es meist von Mustern, Farbtönungen oder Liniengewirr eingehegt und quasi relativiert.

 

Fotos ausbeuten wie Farben

 

Vermutlich als Nachhall ihrer Ausbildung: Höch lernte an Kunstgewerbeschulen. Ab 1916 zeichnete sie zum Broterwerb zehn Jahre lang Stickereien und andere Entwürfe für die Handarbeits-Redaktion des Ullstein-Verlags. So entwickelte sie ein feines Gespür für die dekorative Wirkung von Ornamenten und die visuelle Gliederung großer Flächen. Das kam ihr zugute, als sie Mitte 1918 mit Dada-Vordenker Raoul Hausmann, ihrem damaligen Geliebten, ein neues Medium entdeckte: die Foto-Collage.

 

Es sollte zu ihrer Ausdrucksform par excellence werden: „Bis heute“, schrieb sie 1959, „versuche ich konsequent das Foto auszubeuten. Ich benutze es wie die Farbe, oder wie der Dichter das Wort.“ Wobei Höch tatsächlich Fotografien als Rohstoff verstand: nicht als Element, das in einer neuen Zusammenstellung seine bisherige Bedeutung behält, sondern als Ausgangsmaterial für etwas völlig Anderes.

 

Stummfilm-Star weist Mussolini hinaus

 

Ein anschauliches Beispiel ist die Collage „Trauer II“ von 1967. Dafür schnitt Höch vom Umschlag des Life Magazine den Kopf eines Jaguars aus, machte ihn durch Überkleben der Nase unkenntlich, setzte einen menschlichen Mund ein und fügte einen Kranz von spitzen Dreiecken hinzu. So entsteht ein Hybrid-Wesen, das einsam durch irisierende Sphären zu taumeln scheint. Auch das ironische baby doll face „Das ewig Weibliche II“, ebenso von 1967, ist aus allerlei Versatzstücken unterschiedlicher Textur zusammengesetzt.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Rudolf Schlichter – Eros und Apokalypse" - Werkschau des vielseitigen Künstlers von Dada über Neue Sachlichkeit bis Surrealismus in Koblenz + Halle

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Hans Richter – Begegnungen: Von Dada bis heute" – große Retrospektive des Multimediakunst-Pioniers im Martin-Gropius-Bau, Berlin

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung “Traumanatomie” über die Dada-Pioniere Hugo Ball + Hans Arp im Arp Museum, Remagen.

 

Im Lauf der Jahrzehnte lotete die Künstlerin sämtliche Möglichkeiten dieses Verfahrens virtuos aus. Mehr noch: Sie übertrug Prinzipien der Collage wie Perspektivwechsel und absurde Proportionen auf herkömmliche Techniken wie die Malerei. Etwa bei einem ihrer bekanntesten Gemälde, „Roma“ von 1925: Auf den ersten Blick sieht es wie eine harmonische Komposition aus Figuren, Silhouetten und Bauwerken aus. Doch es entpuppt sich als bissiger politischer Kommentar: In der Bildmitte weist Stummfilm-Star Asta Nielsen mit entschiedener Armbewegung den mürrischen Diktator Mussolini aus der ewigen Stadt hinaus.

 

Ungeniert figurativ + abstrakt

 

Die Zeitläufte beobachtete Höch stets aufmerksam; mal kritisch, mal begeistert wie bei der Eroberung des Weltraums, dem sie Ende der 1960er Jahre euphorische Arbeiten widmete. Doch zugleich galt ihr Augenmerk dem Kleinen und Alltäglichen, etwa der Pflanzen- und Tierwelt ihres Gartens, für die sie so originelle wie eindrucksvolle Bildformen fand. Wobei sie ungeniert Figuratives und Abstraktes miteinander kombinierte; getreu ihrer pragmatischen Haltung, die sich um Dogmen-Streit nicht scherte.

 

Damit nahm sie zu Lebzeiten im Kunstbetrieb, der damals stark von theoretischen Debatten geprägt wurde, eine Randstellung ein. Deren Getöse ist längst verhallt; im heutigen anything goes zählt eher die sinnliche Präsenz überzeugender Ausführung. Da wirken die meisten Arbeiten von Höch erfrischend alterslos – Grund genug, ihr Spätwerk in seiner ganzen Fülle neu zu entdecken.