Allem Ende wohnt ein Anfang inne – auch der Spätgotik. Der Begriff lässt ans Ausklingen einer langen Stilepoche denken, der Hochgotik im Mittelalter, an ihre Perfektionierung und Erstarrung. Doch solche Assoziationen führen in die Irre, wie der zweite Teil des Titels besagt: Die Spätgotik war eine Phase zahlreicher Innovationen, die wenig später das Aufblühen der Renaissance ermöglichen sollten.
Info
Spätgotik – Aufbruch in die Neuzeit
21.05.2020 – 03.10.2020
täglich außer montags
10 bis 18 Uhr,
samstags und sonntags ab 11 Uhr
in der Gemäldegalerie, Kulturforum, Matthäikirchplatz, Berlin
Katalog 35 €
Fülle führt zu Manko
Sie ist nach Angaben der Staatlichen Museen zu Berlin (SMB) die bislang größte Themenausstellung über diese Kunstepoche: mit rund 130 Exponaten aller Gattungen, angefangen von Tafelbildern über Druckgrafik, Buchkunst, Glasmalerei und Skulpturen bis hin zu Kunsthandwerk. Diese interdisziplinäre Fülle erweist sich aber paradoxerweise als Manko – dadurch werden viele Aspekte nur flüchtig berührt.
Impressionen der Ausstellung
Unüberbietbar drastische Martyrien
Ausgangspunkt ist der so genannte „weiche Stil“, der um 1400 in ganz Mitteleuropa dominierte: Durch zierliche Silhouetten und fließende Linien ihrer Gewänder wirkten Figuren anmutig. Das änderte sich durch den Realismus von Jan van Eyck (1390-1441): Seine Ölbilder zeigten eine bislang unbekannte Detailtreue und Raffinesse in der Behandlung von Licht und Schatten. Das Hauptwerk von ihm und seinem Bruder Hubert, der 1432 vollendete Genter Altar, beeindruckte und beeinflusste eine ganze Generation von Malern.
Etwa Stefan Lochner (1400-1451): Der maßgebliche Kölner Künstler der ersten Jahrhunderthälfte schuf 1445 eine Verkündigungs-Szene, die spiegelbildlich Eycks Komposition auf den Außenflügeln des Genter Altar gleicht. In der Ausstellung ist Lochner durch zwei Altarflügeln mit den Martyrien der Aposteln vertreten, die an Drastik kaum überbietbar sind – ob das Schinden der Haut oder Kochen bei lebendigem Leib.
Groteskes + Tragik auf engstem Raum
Weniger grausam, dafür schonungslos naturalistisch stellt Lochners Zeitgenossen Hans Multscher das Personal auf dem Wurzacher Altar dar: Der Ulmer Maler bevölkert acht Bildtafeln mit einem Panoptikum der Gewöhnlichkeit. Gehässige Kinder bewerfen den kreuztragenden Jesus mit Kieseln; beim Tod Mariens blättern derbe Typen blöde glotzend in Folianten. Diese Lust am Alltäglichen wird vom oberrheinischen Maler Hans Hirtz ins Aberwitzige gesteigert.
Die sieben Tafeln seiner „Karlsruher Passion“ strotzen vor chaotischem Gedränge: Deformierte Gestalten schieben und stapeln sich übereinander. Auf einem Schädel sitzt eine fette Fliege, ein anderer Scherge spiegelt seine Fratze in der Landsknecht-Rüstung vor ihm, während der Erlöser an jeder Station bis aufs Blut gepeinigt wird. Groteskes und Tragik auf engstem Raum verbunden: So geht die Passionsgeschichte dem Betrachter emotional nahe.
Ab 1390 ist Papier erhältlich
Einen Gegenpol zu solchen plakativen Stilmitteln markierte Konrad Witz (1400-1446) in Basel. Seine „Verkündigung an Maria“ (um 1440) ist zwar an Eycks Vorbild angelehnt, doch zugleich puristisch: Der Erzengel verkündet seine Botschaft in einer völlig leeren Kammer. Ihr verleihen aber präzise Schlagschatten, eine subtile Lichtführung in gedämpften Farben und die Maserung von Decke und Gebälk plastische Räumlichkeit. Anstelle von Überfülle herrscht Konzentration aufs Wesentliche.
Ab der Jahrhundertmitte wird Rogier van der Weyden (1400-1464) zum bewunderten Vorbild von Künstlern in ganz Europa: Sie kopieren die noble Eleganz seiner Kompositionen. Zugleich steigt die Nachfrage nach Bildern sprunghaft an. Von 1390 an wird auch in Deutschland Papier anstelle von Pergament verfügbar: Schnell entstehen die Druckverfahren Holzschnitt und Kupferstich. 1454/5 gibt Johannes Gutenberg die erste mit beweglichen Lettern gedruckte Bibel heraus; innerhalb weniger Jahre explodiert das Angebot an Informationen in Wort und Bild.
Weltchronik mit 1890 Bildern
Sie beschränken sich nicht mehr auf Religiöses. Der am Oberrhein tätige „Meister E.S.“ schuf mehr als 300 Kupferstiche, darunter ein Alphabet aus Figuren – in burlesk-anzüglichen Posen. Der Humanist und Historiker Hartmann Schedel ließ 1493 seine „Schedelsche Weltchronik“ mit 1809 Holzschnitten schmücken – für das am reichsten illustrierte Druckwerk des 15. Jahrhunderts.
Angesichts des rasant steigenden Bilder-Bedarfs verwundert es nicht, dass viele Motive zirkulierten und mehrfach in verschiedenen Medien verwendet wurden. Dazu bietet die Ausstellung anschauliche Beispiele. Das Brustbild einer Maria mit Kind auf einem bemalten Holzrelief aus Straßburg von 1470/80 dient um 1500 als Vorbild für eine Ofenplatte; dieser Eisenguss gilt als erster seiner Art. Die Holzskulptur einer Muttergottes von Michael Erhart aus Ulm wird zwei Jahre später von Heinrich Hufnagel originalgetreu in Silber nachgeformt.
Nur zehn kurze Wandtexte
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension zur Ausstellung "Raffael in Berlin - Die Madonnen der Gemäldegalerie" - doppelte Werkschau im Kulturforum, Berlin
und hier eine Besprechung der Ausstellung "Dürer. Kunst - Künstler - Kontext" - große Retrospektive des Renaissance-Genies im Städel Museum, Frankfurt am Main
und hier ein Bericht über die Ausstellung "Fantastische Welten - Albrecht Altdorfer und das Expressive in der Kunst um 1500" in Frankfurt/ Main + Wien
und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Der Meister von Meßkirch - Katholische Pracht in der Reformationszeit" in der Staatsgalerie Stuttgart.
Solche Bezüge sind jedoch an wenigen Stellen offensichtlich. Mit ihrem Anspruch, die gesamte Kunstproduktion fast eines ganzen Jahrhunderts zu berücksichtigen, übernimmt sich die Schau. Etliche Gattungen sind nur durch einzelne Beispiele vertreten, deren Auswahl willkürlich erscheint. Ein halbes Dutzend Glasmalereien, Prunkgefäße oder Reliquiare auszustellen, wirkt kaum aussagekräftig. Zumal sie von nur zehn kurzen Wandtexten erläutert werden; da bleiben viele Verbindungen bloße Behauptungen.
Katalog stiftet Erkenntnis
Weniger wäre mehr gewesen: Dem heutigen Publikum das Spezifische der Spätgotik in Abgrenzung zur Hochgotik einerseits, der Renaissance andererseits zu vermitteln, ist schwierig genug. Da muss ein Rundumschlag quer durch alle Disziplinen notgedrungen oberflächlich bleiben – selbst bei so üppig bestückten Beständen wie denen der SMB. So findet sich wie bei vielen Großausstellungen der eigentliche Erkenntnisgewinn im Katalog.