Berlin

Spätgotik – Aufbruch in die Neuzeit

Konrad Witz: Die Königin von Saba vor König Salomon, Basel, um 1435–1440, © Staatliche Museen zu Berlin, Gemäldegalerie / Jörg P. Anders
Als die Bilder realistisch wurden: Die Spätgotik überwand mittelalterliche Formeln – mit dem Buchdruck explodierte die Nachfrage nach Motiven. Das zeigt eine opulent bestückte Epochenschau in der Gemäldegalerie, die sich mit ihrem umfassenden Anspruch etwas übernimmt.

Allem Ende wohnt ein Anfang inne – auch der Spätgotik. Der Begriff lässt ans Ausklingen einer langen Stilepoche denken, der Hochgotik im Mittelalter, an ihre Perfektionierung und Erstarrung. Doch solche Assoziationen führen in die Irre, wie der zweite Teil des Titels besagt: Die Spätgotik war eine Phase zahlreicher Innovationen, die wenig später das Aufblühen der Renaissance ermöglichen sollten.

 

Info

 

Spätgotik – Aufbruch in die Neuzeit

 

21.05.2020 – 03.10.2020

täglich außer montags

10 bis 18 Uhr,

samstags und sonntags ab 11 Uhr

in der Gemäldegalerie, Kulturforum, Matthäikirchplatz, Berlin

 

Katalog 35 €

 

Website zur Ausstellung

 

Dafür ließ sie sich Zeit. In Italien hatten bereits ab 1300 Maler wie Giotto die starren Regeln und Formen der mittelalterlichen Kunst aufgebrochen. Doch es sollte mehr als ein Jahrhundert dauern, bis ihre Errungenschaften nördlich der Alpen ankamen und Schule machten. Dann ging alles vergleichsweise rasch. Ab etwa 1430 wandelte sich binnen zwei Generationen auch im deutschsprachigen Raum die künstlerische Praxis radikal; zunächst bei sakraler Kunst, bald darüber hinaus. Diesen Prozess zeichnet die Schau in der Gemäldegalerie nach.

 

Fülle führt zu Manko

 

Sie ist nach Angaben der Staatlichen Museen zu Berlin (SMB) die bislang größte Themenausstellung über diese Kunstepoche: mit rund 130 Exponaten aller Gattungen, angefangen von Tafelbildern über Druckgrafik, Buchkunst, Glasmalerei und Skulpturen bis hin zu Kunsthandwerk. Diese interdisziplinäre Fülle erweist sich aber paradoxerweise als Manko – dadurch werden viele Aspekte nur flüchtig berührt.

Impressionen der Ausstellung


 

Unüberbietbar drastische Martyrien

 

Ausgangspunkt ist der so genannte „weiche Stil“, der um 1400 in ganz Mitteleuropa dominierte: Durch zierliche Silhouetten und fließende Linien ihrer Gewänder wirkten Figuren anmutig. Das änderte sich durch den Realismus von Jan van Eyck (1390-1441): Seine Ölbilder zeigten eine bislang unbekannte Detailtreue und Raffinesse in der Behandlung von Licht und Schatten. Das Hauptwerk von ihm und seinem Bruder Hubert, der 1432 vollendete Genter Altar, beeindruckte und beeinflusste eine ganze Generation von Malern.

 

Etwa Stefan Lochner (1400-1451): Der maßgebliche Kölner Künstler der ersten Jahrhunderthälfte schuf 1445 eine Verkündigungs-Szene, die spiegelbildlich Eycks Komposition auf den Außenflügeln des Genter Altar gleicht. In der Ausstellung ist Lochner durch zwei Altarflügeln mit den Martyrien der Aposteln vertreten, die an Drastik kaum überbietbar sind – ob das Schinden der Haut oder Kochen bei lebendigem Leib.

 

Groteskes + Tragik auf engstem Raum

 

Weniger grausam, dafür schonungslos naturalistisch stellt Lochners Zeitgenossen Hans Multscher das Personal auf dem Wurzacher Altar dar: Der Ulmer Maler bevölkert acht Bildtafeln mit einem Panoptikum der Gewöhnlichkeit. Gehässige Kinder bewerfen den kreuztragenden Jesus mit Kieseln; beim Tod Mariens blättern derbe Typen blöde glotzend in Folianten. Diese Lust am Alltäglichen wird vom oberrheinischen Maler Hans Hirtz ins Aberwitzige gesteigert.

 

Die sieben Tafeln seiner „Karlsruher Passion“ strotzen vor chaotischem Gedränge: Deformierte Gestalten schieben und stapeln sich übereinander. Auf einem Schädel sitzt eine fette Fliege, ein anderer Scherge spiegelt seine Fratze in der Landsknecht-Rüstung vor ihm, während der Erlöser an jeder Station bis aufs Blut gepeinigt wird. Groteskes und Tragik auf engstem Raum verbunden: So geht die Passionsgeschichte dem Betrachter emotional nahe.

 

Ab 1390 ist Papier erhältlich

 

Einen Gegenpol zu solchen plakativen Stilmitteln markierte Konrad Witz (1400-1446) in Basel. Seine „Verkündigung an Maria“ (um 1440) ist zwar an Eycks Vorbild angelehnt, doch zugleich puristisch: Der Erzengel verkündet seine Botschaft in einer völlig leeren Kammer. Ihr verleihen aber präzise Schlagschatten, eine subtile Lichtführung in gedämpften Farben und die Maserung von Decke und Gebälk plastische Räumlichkeit. Anstelle von Überfülle herrscht Konzentration aufs Wesentliche.

 

Ab der Jahrhundertmitte wird Rogier van der Weyden (1400-1464) zum bewunderten Vorbild von Künstlern in ganz Europa: Sie kopieren die noble Eleganz seiner Kompositionen. Zugleich steigt die Nachfrage nach Bildern sprunghaft an. Von 1390 an wird auch in Deutschland Papier anstelle von Pergament verfügbar: Schnell entstehen die Druckverfahren Holzschnitt und Kupferstich. 1454/5 gibt Johannes Gutenberg die erste mit beweglichen Lettern gedruckte Bibel heraus; innerhalb weniger Jahre explodiert das Angebot an Informationen in Wort und Bild.

 

Weltchronik mit 1890 Bildern

 

Sie beschränken sich nicht mehr auf Religiöses. Der am Oberrhein tätige „Meister E.S.“ schuf mehr als 300 Kupferstiche, darunter ein Alphabet aus Figuren – in burlesk-anzüglichen Posen. Der Humanist und Historiker Hartmann Schedel ließ 1493 seine „Schedelsche Weltchronik“ mit 1809 Holzschnitten schmücken – für das am reichsten illustrierte Druckwerk des 15. Jahrhunderts.

 

Angesichts des rasant steigenden Bilder-Bedarfs verwundert es nicht, dass viele Motive zirkulierten und mehrfach in verschiedenen Medien verwendet wurden. Dazu bietet die Ausstellung anschauliche Beispiele. Das Brustbild einer Maria mit Kind auf einem bemalten Holzrelief aus Straßburg von 1470/80 dient um 1500 als Vorbild für eine Ofenplatte; dieser Eisenguss gilt als erster seiner Art. Die Holzskulptur einer Muttergottes von Michael Erhart aus Ulm wird zwei Jahre später von Heinrich Hufnagel originalgetreu in Silber nachgeformt.

 

Nur zehn kurze Wandtexte

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension zur Ausstellung "Raffael in Berlin - Die Madonnen der Gemäldegalerie" - doppelte Werkschau im Kulturforum, Berlin

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Dürer. Kunst - Künstler - Kontext" - große Retrospektive des Renaissance-Genies im Städel Museum, Frankfurt am Main

 

und hier ein Bericht über die Ausstellung "Fantastische Welten - Albrecht Altdorfer und das Expressive in der Kunst um 1500" in Frankfurt/ Main + Wien

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Der Meister von Meßkirch - Katholische Pracht in der Reformationszeit" in der Staatsgalerie Stuttgart.

 

Die Wanderung spätgotischer Formen mündet schließlich in Werke, die eindeutig der Renaissance zuzuordnen sind. Albrecht Dürer malt 1493/4 einen kleinformatigen „Christus als Schmerzensmann“, der seinen Kopf resigniert mit dem Arm auf seinem Knie abstützt. Diese Haltung dürfte inspiriert sein von der eigenwilligen Körperdrehung der „Büste eines Mannes“, die Niclaus Gerhaert von Leyden um 1463 in Straßburg schuf.

 

Solche Bezüge sind jedoch an wenigen Stellen offensichtlich. Mit ihrem Anspruch, die gesamte Kunstproduktion fast eines ganzen Jahrhunderts zu berücksichtigen, übernimmt sich die Schau. Etliche Gattungen sind nur durch einzelne Beispiele vertreten, deren Auswahl willkürlich erscheint. Ein halbes Dutzend Glasmalereien, Prunkgefäße oder Reliquiare auszustellen, wirkt kaum aussagekräftig. Zumal sie von nur zehn kurzen Wandtexten erläutert werden; da bleiben viele Verbindungen bloße Behauptungen.

 

Katalog stiftet Erkenntnis

 

Weniger wäre mehr gewesen: Dem heutigen Publikum das Spezifische der Spätgotik in Abgrenzung zur Hochgotik einerseits, der Renaissance andererseits zu vermitteln, ist schwierig genug. Da muss ein Rundumschlag quer durch alle Disziplinen notgedrungen oberflächlich bleiben – selbst bei so üppig bestückten Beständen wie denen der SMB. So findet sich wie bei vielen Großausstellungen der eigentliche Erkenntnisgewinn im Katalog.