Abstraktion geht immer. Längst vergangen sind die Scharmützel, in denen der Verzicht auf gegenständliche Motive als Weltsprache der Freiheit beschworen oder – mit heftigem Widerspruch – als realitäts- und volksfern verdammt wurde. Solche pathetisch ausgetragenen Grabenkämpfe der 1950/60er Jahre sind Kunstgeschichte.
Info
Ways of Seeing Abstraction – Works from the Deutsche Bank Collection
27.03.2021 - 28.02.2022
täglich außer montags
11 bis 18 Uhr,
donnerstags bis 21 Uhr
im PalaisPopulaire, Unter den Linden 5, Berlin
Katalog 35 €
Geometrisches aus Iran + Bangladesh
Tausende hauchdünne Filzstiftlinien schichtet der gebürtige Iraner Nima Nabavi zu schimmernden Farbschleiern; im Duktus präzise wie Computergrafiken, aber komplett handgemacht. Seine kristallin anmutenden Konstruktionen setzen die geometrische Tradition islamischer Kunst in der Gegenwart fort. Die knallroten Linienbündel, die Rana Begum aus Bangladesh auf hauchzartes, vergilbtes Pauspapier gezeichnet hat, könnten dagegen von einem Konstruktivisten aus den 1920er Jahren stammen. Doch sie entstanden 100 Jahre später.
Feature zur Ausstellung. © PalaisPopulaire
Politisch aufgeladene Abstraktion
Auf Chronologie oder stilistische Schubladen verzichtet die Schau; was hier zu sehen ist, soll für sich wirken. So begegnen sich arrivierte und aktuelle Positionen, auch auf die Gefahr der Beliebigkeit hin. Am Anfang des Parcours hängen farbstarke Gouachen von Wilhelm Müller. Als einer der wenigen Künstler, die in der DDR geometrisch und abstrakt arbeiteten, erwies er mit seinen „Variationen über ein Thema von Otto Freundlich“ einem von den Nazis ermordeten Kollegen seine Reverenz – selbst abstrakte Kunst kann politisch aufgeladen sein.
Im oberen Geschoss der zweigeteilten Ausstellung sind kühl geometrische Spielarten unter sich. Die Werke geben klare Kante, mit knalligen Kontrasten und monochromen Flächen. Und sie schaffen es, sich nirgends zu wiederholen, trotz aller formalen Reduktion. Unverwechselbar: plakative Diagonalen von Günter Fruhtrunk, wuchtig-klare Collagen des Bildhauers Ulrich Rückriem, oder Beispiele aus den abstrakten Werkphasen von Gerhard Richter – er darf natürlich nicht fehlen.
Ein Hauch von Nichts am Raumpfeiler
Für die zahllosen Nuancen seiner frühen Farbtafel-Grafiken loste er das Mischungsverhältnis der Grundfarben Rot, Gelb und Blau per Zufall aus und ließ die Ergebnisse maschinell drucken. Anderen Künstlern kam handelsübliches Büromaterial gerade recht: Peter Roehl reihte schnöde Computer-Lochkarten seriell zum Quadrat. Charlotte Posenenske fixierte farbiges Klebeband unordentlich und trotzdem fein austariert auf Papier; minimalistisches Understatement anno 1965. Ist das noch reine Abstraktion oder schon Objektkunst?
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Object of Wonder" über "British Sculpture from the Tate Collection 1950s – Present" im PalaisPopulaire, Berlin
und hier eine Besprechung der Ausstellung "The Music of Color": große Retrospektive des abstrakten afroamerikanischen Malers Sam Gilliam im Kunstmuseum Basel
und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Otto Freundlich - Kosmischer Kommunismus" - eindrucksvolle Retrospektive des originellen Abstrakten in Köln + Basel
und hier ein Bericht über die Ausstellung "K.O. Götz": prächtige Retrospektive zum 100. Geburtstag des Informel-Malers in Berlin, Duisburg + Wiesbaden
und hier einen Artikel über die Ausstellung "Gerhard Richter - Abstraktion" - große Retrospektive im Museum Barberini, Potsdam.
Wie Vulkaninseln im Meeresblau
Unübersehbar und dennoch für einen trompe-l’œil-Effekt gut sind Werke der Frankokanadierin Kapwani Kiwanga. Ihre großformatigen Hochglanz-C-Prints vermengen Fotoästhetik und abstrakte Farbraum-Kompositionen. Aus Jalousien, Kugellampen und Lichtkanten lässt sie unauslotbare, imaginäre Räume entstehen. Auch andere Künstler frönen der Abstraktion, indem sie mit fotografischen Mitteln die Wahrnehmung foppen. Nicht alles, was wie pastose Malmaterie aussieht, muss wirklich mit dem Pinsel aufgetragen worden sein.
Die zweite Hälfte der Schau im Untergeschoss gehört den freien, gestischen und informellen Spielarten. Hier wird gekleckst und wild gepinselt, aber nicht nur. Wie Inseln mit Vulkanen schwimmen glutrote Formgebilde im sich kräuselnden Meeresblau: Kerstin Brätsch hat dafür mit einem Fachmann für Marmoriertechnik zusammengearbeitet. Ihre riesige Druckgrafik gleicht einer imaginären Landkarte und ist tatsächlich faltbar – nach dem Muster eines Falk-Stadtplans.
Schwarze Schlieren um leere Mitte
Den Schlusspunkt der Schau bildet ein stilles Werk des 2000 verstorbenen Lothar Quinte. Es ist von düsterer Farbigkeit; graue Farbnebel überlagern sich wie Vorhänge. Aber wird es im Zentrum nicht heller, mit rötlichem Lichtschimmer? Das mag manchen als hoffnungsvoller Ausblick erscheinen, anderen eher als Resonanzraum für depressive Stimmungen. Ähnlich „Corona VII“: Franziska Furter malte das Werk 2013 mit Tusche auf Papier. Zu sehen sind nur Kreise aus schwarzen Schlieren um eine leere Mitte.