
Nachlass in Berlin zu Lebzeiten: Diese Ausstellung dürfte die letzte sein, die Stephanie Rosenthal als Direktorin des Gropius-Baus seit 2018 auf den Weg gebracht hat. Mitte 2022 wurde bekannt, dass Rosenthal ihren zum Jahresende auslaufenden Vertrag nicht verlängerte, sondern stattdessen im September nach Abu Dhabi wechseln wollte: um die dortige Filiale des Guggenheim-Museums aufzubauen, das 2025 mit acht Jahren Verspätung eingeweiht werden soll.
Info
Indigo Waves and Other Stories.
Re-Navigating the Afrasian Sea and
Notions of Diaspora
06.04.2023 - 13.08.2023
täglich außer dienstags 10 bis 18 Uhr
im Martin-Gropius-Bau, Berlin
kein Katalog
Weitere Informationen zur Ausstellung
HKW-Chef Ndikung als Kurator
Kuratiert wurde die große Sommerausstellung im Gropius-Bau allerdings von einem Trio: neben Natasha Ginwala, Leiterin des größten Festival für zeitgenössische Kunst in Sri Lanka, und dem italienischen Autor Michelangelo Corsaro von Bonaventure Soh Bejeng Ndikung. Der umtriebige gebürtiger Kameruner gründete 2009 in Berlin den postkolonialen Kunstraum „Savvy Contemporary“, war 2015 Ko-Kurator der documenta 14 und ist seit Jahresbeginn neuer Intendant des Hauses der Kulturen der Welt (HKW). Im „Savvy Contemporary“ wurde auch bis Juni ein weiteres „Kapitel“ von „Indigo Waves“ als Ergänzung zur Gropiusbau-Schau gezeigt.
Impressionen der Ausstellung
Kultur-Drehscheibe jenseits von Europa
Dass bei deren Eröffnung Anfang April zwei der federführenden Akteure längst andernorts engagiert waren, merkt man der Ausstellung an. In ihrem so langen wie kryptischen Titel ist „Afrasian Sea“ der entscheidende Begriff: Dieses Weltmeer wird in Europa „Indischer Ozean“ genannt. Es geht um seine Funktion als Drehscheibe der Kulturen, auf der seit vielen Jahrhunderten Waren und Ideen ausgetauscht werden – abseits der von europäischen Kolonialmächten etablierten Verkehrswege und -ströme.
Der Ansatz ist bestechend; er beleuchtet eine Weltgegend, deren eminente Bedeutung hierzulande meist ignoriert wird. Zwischen Ostafrika, der Golfregion, dem indischen Subkontinent und Südostasien existiert seit jeher reger Verkehr, dessen Praktiken und Folgen im Westen wenig bekannt sind. Um nur drei Beispiele zu nennen: Südarabische (Sklaven-)Händler begründeten auf Sansibar ein mächtiges Sultanat, das gemeinsam mit Oman einen Staat bildete und lange die ostafrikanische Küste bis Mosambik beherrschte.
Weder Wandtexte noch Katalog
Oder: Die Einwohner von Madagaskar sind vermutlich Nachfahren malaiischer Einwanderer aus Südostasien, die von dort ihre traditionelle Reisanbaukultur mitbrachten. Und: Indonesien wurde auf dem Seeweg islamisiert; muslimische Händler aus Arabien und Indien importierten den Glauben an Allah. Die Interaktion der Kulturräume an den Küsten des Indischen Ozeans war und ist also sehr komplex – doch die Ausstellung unterlässt es völlig, nötiges Hintergrundwissen zu vermitteln.
Die Einführung am Eingang umfasst ganze 27 Zeilen. Es gibt weder weiterführende Wandtexte noch einen Katalog – nur ein dünnes Faltblatt, das allen 25 teilnehmenden Künstlern je einen Absatz widmet. Manche dieser Kürzestcharakteristiken scheinen zweitverwendet zu werden, denn sie enthalten auch Namen, die in der Schau keine Rolle spielen. Andere aufgelistete Teilnehmer werden im Faltblatt gar nicht berücksichtigt.
Unklare Teilnehmer- + Werkauswahl
Ohnehin erscheint deren Auswahl konzeptuell ebenso unklar wie die der Kunstwerke. Die bunt schillernden Leinwände des Kolumbianers Oscar Murillo, dessen aquatischer Abstrakter Expressionismus an die Seerosen-Bilder von Claude Monet anknüpft, haben geographisch und thematisch mit der „Afrasian Sea“ so wenig zu tun wie die minimalistische Materialsammlung der Südkoreanerin Jeewi Lee, die Innenskelette von Sepia-Tintenfischen abzeichnet – außer, dass beides irgendwie mit Meerwasser zusammenhängt.
Andere Beiträge wirken wie viel geschmähte „kulturelle Aneignung“. Der Türke Köken Ergun hat den halbstündigen Agitprop-Animationsfilm „China, Beijing, I Love You!“ gedreht. Er nimmt so amüsant wie plakativ die Ausbeutung von Bodenschätzen in Indonesien durch fremde Investoren aufs Korn. Die Italienerin Rosella Biscotti breitet Naturharz-Matten mit eingeprägten Batikmustern aus, um an die Ausbeutung von Arbeitern auf Kautschuk-Plantagen in Indonesien und Malaysia zu erinnern. Beides hat Schauwert, bloß: Indonesien und Malaysia sind prosperierende Schwellenländer mit vitalen Kulturszenen – warum werden ihre Anliegen hier von Europäern vertreten?
Voraussetzungsreiches bleibt unerklärt
Zwar gibt es auch selbst erklärende Exponate. Der Kenianer John Njenga Karugia steuert Fotoserien und Video-Interviews zur Kreolisierung der Kulturen dieser Region bei, etwa der Swahili an der ostafrikanischen Küste: nüchtern und trocken, aber informativ. Sim Chi Yin aus Singapur fotografiert den Abtransport von Sand als Baustoff aus Flussdeltas und Küstenstreifen in Südostasien – dieser Raubbau hinterlässt sichtbare Umweltzerstörung.
Doch die meisten Arbeiten sind viel zu voraussetzungsreich, um von hiesigen Besuchern auf Anhieb verstanden zu werden – und die Kuratoren schweigen sich aus. Was jammerschade ist, denn etliche Werke betören durch ihre sinnliche Opulenz und Originalität. Malala Andrialavidrazana aus Madagaskar hat historische Karten zu Collagen verarbeitet, auf denen sich Götter, Heroen, exotische Fauna und allerlei mehr überlagern; doch ohne Erläuterung bleiben die faszinierenden Wimmelbilder undurchsichtig.
Visueller Reiz verbirgt Bedeutung
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Von Liebe und Krieg – Tamilische Geschichte(n) aus Indien und der Welt" – facettenreiche Themenschau über Kunst + Kultur in Südasien im Lindenmuseum, Stuttgart
und hier eine Bilanz der Ausstellung "documenta fifteen" mit beeindruckenden Groß-Installationen der Kunstkollektive Taring Padi aus Java + Atis Resistanz aus Haiti
und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Gauri Gill" - vielfältige Überblicksschau über das Werk der indischen Fotografin in der Schirn Kunsthalle, Frankfurt/ Main.
Noch weniger erschließen sich die anmutigen Textilien von Jennifer Tee aus den Niederlanden: Getrocknete Tulpenblätter ordnet sie zu streng symmetrischen Mustern, etwa stilisierten Schiffen. Ihr visueller Reiz verbirgt eine ohne Vorkenntnisse unzugängliche Bedeutungsebene.
Performance-Kunst ab September
Woran mag es liegen, dass die Macher derart attraktive wie anspruchsvolle Arbeiten nur mit wenigen dürren Worten präsentieren – und damit ihr Erkenntnispotential verschleudern? Bequemlichkeit, Ignoranz oder eine spezielle Form von Kunstbetriebsblindheit: der Glaube, dass ein paar Sätze wolkigen Kuratoren-Sprechs pro Exponat ausreichen, weil eh keiner mehr erfahren will? Wahrscheinlich eine Mischung aus allem.
Jedenfalls erleidet damit Rosenthals Absicht, dem Hauptstadt-Publikum Vielfalt und Reichtum nichtwestlicher Gegenwartskunst näher zu bringen, abermals krachend Schiffbruch. Ob ihre Nachfolgerin Jenny Schlenzka daran anknüpfen wird, wenn sie im September ihr Amt antritt, darf bezweifelt werden: Sie ist Spezialistin für Performance-Kunst.