Dortmund

Nam June Paik: I Expose the Music

Nam June Paik: Good Morning Mr. Orwell, 1984 (Still). © Nam June Paik Estate, Courtesy Electronic Arts Intermix (EAI), New York. Fotoquelle: Museum Ostwall
Video Loved the Radio Star: Der Multimediakunst-Pionier Nam June Paik hat zugleich den Musikbegriff radikal erweitert. Er verarbeitete Schallplatten zu Schaschlik und Fernsehgeräte zum Cello. So nahm er den heutigen Daten-Tsunami erschreckend hellsichtig vorweg, zeigt eine Retrospektive im Museum Ostwall.

Einmal hat sich der Videokunst-Pionier Nam June Paik (1932-2006) gründlich geirrt. 1973 schuf er seine 28-minütige Collage „Global Groove“: ein wild flackerndes Bilder-Gewitter aus allen möglichen Quellen, hektisch geschnitten und bizarr deformiert. Diesen television overkill gab Paik als Vorgriff auf eine Zukunft aus, „in der sie jeden Fernseh-Sender der Welt einschalten können – und die Fernseh-Zeitschrift so dick wie das Telefonbuch von Manhattan sein wird.“

 

Info

 

Nam June Paik: I Expose the Music

 

17.03.2023 - 27.08.2023

täglich außer montags 11 bis 18 Uhr,

donnerstags und freitags bis 20 Uhr

im Museum Ostwall im Dortmunder U, Leonie-Reygers-Terrasse

 

Katalog 29,90 €

 

Weitere Informationen zur Ausstellung

 

Von wegen: TV-Magazine und Telefonbücher werden immer dünner oder sind längst ins Internet abgewandert. Seine Vision der Bildproduktion ist dagegen mit Kabel-Kanälen, Satelliten-Receivern und Streaming-Diensten drastisch Wirklichkeit geworden – wann hätte je ein Künstler die Folgen einer medialen Revolution so präzise in seinen Arbeiten vorweggenommen?

 

Kooperation mit Karlheinz Stockhausen

 

Paiks Material waren aber nicht nur Bilder, sondern auch Töne; diesem weniger bekannten Aspekt seines Werks ist die Ausstellung im Museum Ostwall gewidmet. Der gebürtige Koreaner hatte in Tokio Komposition studiert, setzte sein Studium in München fort, wo sein Interesse für zeitgenössische E-Musik geweckt wurde, und arbeitete ab 1958 mit Karlheinz Stockhausen im „Studio für elektronische Musik“ des WDR zusammen.

Feature zum Werk von Nam June Paik + Charlotte Moorman; © San Francisco Museum of Modern Art (SFMOMA)


 

20-Räume-Symphonie als Schlüsselwerk

 

Für dessen Musiktheater „Originale“ entwickelte Paik 1961 seine „Aktionsmusik“: Er ließ vom Tonband eine Klangcollage mit Schreien, Radionachrichten, Kinderlärm und Fetzen klassischer Musik ablaufen. Dazu tat er allerlei, was ebenfalls Geräusche machte: Bohnen ins Publikum werfen, in ein Wasserbecken steigen oder mit einem Schnuller im Mund Klavier spielen. Solche Spektakel sorgten für Aufregung, was Paik sichtlich genoss, wie damalige Filmaufnahmen zeigen.

 

Doch im Grunde ging es ihm um etwas anderes: das Verständnis von Musik denkbar weit auszudehnen und zugleich das Publikum möglichst intensiv einzubeziehen. Rudolf Frieling vom San Francisco Museum of Modern Art (SFMOMA), der Kurator der Dortmunder Schau, betrachtet „Symphonie for 20 Rooms“ von 1961 als Paiks Schlüsselwerk: eine Skizze getrennter Räume, in denen lauter unterschiedliche Geräuschquellen erklingen sollten. Die Zuhörer könnten nach Gusto herumlaufen und individuelle Höreindrücke sammeln. Diese „Partitur“ wurde nie aufgeführt, doch ihr Prinzip blieb für Paik maßgeblich.

 

Scratching mit Singles + Tonbändern

 

Zugleich schloss er sich der Fluxus-Bewegung im Rheinland an und beeindruckte mit gewagten Performances und Objekten. Etwa bei seiner ersten Einzelausstellung „Exposition of Music – Electronic Television“ 1963 in der Wuppertaler „Galerie Parnass“: Dort hatte er ein „Schallplatten-Schaschlik“ aufgebaut. Auf Plattenspieler waren zwei Spieße montiert, an denen sich eine Handvoll Singles drehten. Mit einem Tonabnehmer konnten Besucher beliebige Rillen abtasten und hören – eine Urform des Scratching.

 

Ähnlich war „Random Access“ konzipiert: An der Wand kleben wild verstreut Tonband-Fragmente. Reibt man mit einem Tonkopf darüber, sind heulende Frequenzen zu hören – je nach Bewegung andere. Heute steht man geradezu gerührt vor diesen Apparaten, die quasi aus der Prähistorie der Tontechnik zu stammen scheinen. Doch vor 60 Jahren boten sie etwas gänzlich Neues. Die Musikindustrie diktierte, welche Klänge konserviert wurden; Tonträger waren vergleichsweise teuer. Paiks Arrangements ließen erstmals die Konsumenten mitmischen.

 

Voller Körpereinsatz beim Cello-Spiel

 

Das Gleiche gilt für die Aufzeichnung von Bildern: Staatliche TV-Anstalten und die Kinobranche waren praktisch Monopolisten. Mitte der 1960er Jahre brachte Sony die erste für Privatleute erschwingliche Videokamera namens „Portapak“ auf den Markt. Paik legte sich sogleich eine zu; fortan kombinierte er stets beide Medien miteinander. Zu seiner wichtigsten Mitspielerin wurde Charlotte Moorman (1933-1991).

 

Die klassisch ausgebildete Cellistin agierte in Paiks Performances mit vollem Körpereinsatz: Sie spielte liegend, zog sich währenddessen aus oder trat nur in Plastikfolie eingewickelt auf. Bei der Aufführung von „Variations on a Theme by Saint-Saëns“ brach sie mitten im Stück ab, stieg in ein Ölfass voller Wasser, kam heraus und spielte klatschnass weiter. Beide ergänzten sich kongenial, betonte sie: „Wegen meiner ganzen klassischen Ausbildung an der Juilliard School kenne ich die Regeln. Das ist enorm wichtig, wenn man sie brechen will.”

 

Heroische Frühphase der Multimedia-Kunst

 

Für Moorman entwickelte Paik diverse Accessoires: eine Brille und einen BH mit integrierten Monitoren, sogar ein ganzes „TV Cello“ aus laufenden Fernsehgeräten, auf dem sie musizierte. Ab Ende der 1970er Jahre schuf er immer größere Multi-Monitor-Installationen, auf denen verschiedene Videosequenzen gleichzeitig abliefen.

 

All das führt diese Werkschau überraschend anschaulich vor. Sie entgeht dem Dilemma, dass man Musik eigentlich nicht ausstellen kann, ohne die Besucher mit Batterien von Kopfhörern abzuschrecken, weil Paiks Arbeiten stets beides zugleich sind: Klangerzeuger und physisches Objekt. Ergänzt um Partituren, Fotodokumente und Plakate aus den Archiven, entsteht so ein facettenreiches Bild seines Wirkens in der heroischen Frühphase von Performance- und Multimedia-Kunst.

 

E-Version der Sixtinischen Kapelle

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Dimensions – Digital Art since 1859" – große Überblicksschau mit Werken von Nam June Paik in den Pittlerwerken, Leipzig

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Installationen aus 25 Jahren Sammlung Falckenberg" in der Sammlung Falckenberg in Hamburg mit Werken von Nam June Paik

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "Der montierte Mensch" im Museum Folkwang in Essen mit Werken von Nam June Paik

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Vidéo Vintage 1963-1983: Gründungsvideos aus der Sammlung des Centre Pompidou Paris" im ZKM Karlsruhe mit Werken von Nam June Paik.

 

Sie ging in den 1980er Jahren zuende. Das zeigen die Großprojekte, die Paik – inzwischen arrivierter Starkünstler – nun durchzog. Wie „Good Morning, Mr. Orwell“: Diese TV-Sendung wurde am 1. Januar 1984 simultan in Paris und New York produziert und live in sechs Ländern ausgestrahlt. Mit dabei war eine Schar Berühmtheiten des Kulturbetriebs, von John Cage und Joseph Beuys über Yves Montand und Peter Gabriel bis zu Philip Glass und Maurizio Kagel. Alle sollten der Orwellschen Dystopie eine völkerverbindend positive Botschaft entgegen schmettern – doch die meisten Zuschauer verstanden nur Bildersalat.

 

Noch aufwändiger war die „Sistine Chapel“. 1993 bespielten Hans Haacke und Nam June Paik auf der 45. Biennale von Venedig gemeinsam den Deutschen Pavillon. Paik hatte darin 42 Projektoren installiert; sie warfen in scheinbar ungeordneter Reihenfolge teils verfremdete Videoschnipsel mit Aufnahmen von Cage, Beuys, Moorman, aber auch Janis Joplin, David Bowie oder Lou Reed an die Wände und Decken. Als Rekonstruktion ist diese E-Version der Sixtinischen Kapelle am Ende des Rundgangs zu erleben: eine nervtötende Kakophonie.

 

Vorausgeahnte Krebsgeschwüre

 

Auch damit erwies sich Paik als Visionär. Bis seine Vorstellung technisch umgesetzt werden konnte, sollte zwar noch gut ein Jahrzehnt vergehen, aber dann schlug sie machtvoll zu. Partizipation und Demokratisierung von elektronischen Medien haben eine maßlose Inflationierung von Bildern und Tönen ausgelöst, die einander banalisieren und neutralisieren; diese Reizüberflutung hinterlässt emotionale Leere. Petabytes digitaler Daten wuchern wie Krebsgeschwüre, die alles andere zu ersticken drohen. Dass der Koreaner all dies so hellsichtig vorausgeahnt hat, lässt frösteln.