Berlin

O Quilombismo – Von Widerstand und Beharren. Von Flucht als Angriff. Von alternativen demokratisch-egalitären politischen Philosophien

Carol Barreto: Retrato de Familia (Fotoserie, Detail), 2023. Foto: Roque Boa Morte.
Befreiungstheologie für die Globalisierung: Das Haus der Kulturen der Welt feiert seine Wiedereröffnung mit dem Rat, sich an Siedlungen von Ex-Sklaven zu orientieren. Abgesehen von postkolonialem Populismus bietet es hervorragende Einblicke in nichtwestliche Kunstformen – sinnlich und aufregend.

Als erstes fällt auf: Der Grauschleier ist weg. Ab 2006 war Bernd Scherer 16 Jahre lang Intendant des Hauses der Kulturen der Welt (HKW). Der promovierte Philosoph verwandelte die ‚Schwangere Auster‘ am Spreeufer in eine Art Dauer-Oberseminar, in dem selbst ernannte progressive Theoretiker aus der zweiten Reihe endlos über intellektuelle Modethemen der Saison debattierten. Offenbar eine Attraktion für Jung-Akademiker; die Veranstaltungen waren oft gut besucht. Aber mit dem Auftrag des Hauses, die Kulturen der Welt vorzustellen, hatte es wenig zu tun.

 

Info

 

O Quilombismo – Von Widerstand und Beharren. Von Flucht als Angriff. Von alternativen demokratisch-egalitären politischen Philosophien

 

02.06.2023 - 17.09.2023

täglich außer dienstags 12 bis 19 Uhr

im Haus der Kulturen der Welt, John-Foster-Dulles-Allee 10, Berlin

 

Handbuch gratis, Reader 21 €

 

Weitere Informationen zur Ausstellung

 

Es gab auch Ausstellungen: meist Labyrinthe aus Vitrinen voller Flachware und zugepflasterten Stellwänden. Wie derlei eben aussieht, wenn man Konzept und Gestaltung Bücherwürmern überlässt. Andere Sparten des HKW-Programms, etwa Konzerte und Performances, erschienen zunehmend als uninspiriert ausgewählte Feigenblätter.

 

Umtriebiger Kultur-Impresario

 

Zum Jahreswechsel wurde Scherer vom umtriebigen Kultur-Impresario Bonaventure Soh Bejeng Ndikung abgelöst. Der gebürtige Kameruner empfahl sich durch den von ihm 2009 gegründeten Berliner Projektraum „Savvy Contemporary“ für nichtwestliche Kunst, seine Mitwirkung 2015 an der documenta 14 und an der Dak’Art Biennale im Senegal 2018. Derweil wurde die Schwangere Auster monatelang saniert.

Impressionen der Ausstellung


 

2000 Quilombo-Siedlungen in Brasilien

 

 

Anfang Juni wurde das HKW wiedereröffnet – mit einem dreitägigen Festival, das an einen Karneval erinnerte. Aber nicht an die europäische, sondern die lateinamerikanische Spielart: überbordend, die Sinne betäubend, orgiastisch. Im Mittelpunkt: eine erste große Ausstellung mit programmatischem Anspruch. Sie soll alles bündeln, was Ndikung und sein Team künftig anders und besser machen wollen – ein Paukenschlag. Zugeständnisse an übliche Sehgewohnheiten sind nicht vorgesehen.

 

Schon der Titel bedarf der Erläuterung. „O Quilombismo“ ist ein brasilianischer Begriff für Gemeinschaften geflohener schwarzer Sklaven, die sich in entlegenen Gebieten selbst niederließen und organisierten. Im größten dieser Quilombos lebten im 17. Jahrhundert rund 30.000 Menschen. Noch heute soll es in Brasilien mehr als 2000 solcher Siedlungen geben, meist im Nordosten.

 

Freitreppe komplett mit Jute verhüllt

 

Worauf die Schau abzielt, sagt sie im Untertitel so wortreich wie überdeutlich: „Von Widerstand und Beharren. Von Flucht als Angriff. Von alternativen demokratisch-egalitären politischen Philosophien“. Das sind keine ästhetischen, sondern allesamt psycho-soziologische Begriffe, was eine Fortsetzung des staubtrockenen Scherer-Kurses befürchten lässt. Nichts weniger als das!

 

Zu bestaunen ist die Wiederkehr der Sinnlichkeit: satte Farben, organische Formen, laute Töne und fremdartige Materialien. Im Außenraum rund ums HKW machen sich monströse Installationen breit. So hat etwa der Ghanaer Ibrahim Mahana eine Freitreppe komplett mit Jutesäcken verhüllt – wie bereits auf der documenta 14 in Kassel ein zweistöckiges historisches Torwachen-Gebäude. An der Auffahrt und auf dem Dach wehen eigens für diesen Anlass entworfene Fahnen.

 

Erobertes Terrain in Besitz nehmen

 

Die Säulen am Eingang hat Georgina Maxim aus Simbabwe mit Webteppichen umwickelt. Im Inneren wurde die erste tragende Säule mit bronzener Pappe verkleidet; darauf stehen Titel und sämtliche Mitwirkende. Andere Säulen werden von Garn-Geflechten der Marokkanerin Amina Agueznay umhüllt. In der Haupthalle bedeckt ein graphisches Leitsystem den Boden, das geflochtenen Haarsträhnen ähnelt; entworfen von Nontsikelele Mutiti, ebenfalls aus Simbabwe.

 

Kein Zweifel: Da wird jüngst erobertes Terrain demonstrativ in Besitz genommen. Dem dient auch die Umbenennung der Gebäudeteile. Sie heißen jetzt „Sylvia Wynter Foyer“, „Beatriz Nascimento Halle“ oder „Miriam Makeba Auditorium“ – viele Regime feiern symbolisch ihre Machtübernahme, indem sie öffentliche Räume nach ihren Hausheiligen taufen. Hier nach emanzipatorischen Vordenkern und Aktivisten, darunter auch zwei Deutschen: Anna Seghers und Magnus Hirschfeld.

 

Sujets, so unbekannt wie Mond-Rückseite

 

Doch alles Herumfuchteln mit Emblemen und Helden-Namen lenkt nicht davon ab, welch fabelhaft sinnespralle Ausstellung den Kuratoren gelungen ist. Mit Beiträgen von mehr als 70 Künstlern aus allen Kontinenten, deren Werke bei aller Verschiedenheit eines eint: Sie kümmern sich nicht um den westlichen Kunstkanon und haben mit europäischen Bildsprachen wenig bis nichts zu schaffen. Ohne dass ihre Arbeiten spröde oder unzugänglich gerieten, im Gegenteil.

 

Bilder sind vorwiegend figurativ oder, falls abstrakt, in leicht fasslichen Formen gehalten. Objekte verströmen haptischen Reiz, fast wie bei Gebrauchsgegenständen. Den meisten Exponaten – ob Federzeichnung oder Multimedia-Installation – gelingt mühelos der Brückenschlag zwischen künstlerischen Errungenschaften der Moderne und Sujets, die hiesigen Betrachtern häufig so unbekannt sind wie die Rückseite des Mondes. Solche Exotik im positiven Sinne macht die Schau sehr aufregend.

 

280-Seiten-Handbuch statt Erläuterungen

 

Allerdings nicht so Augen öffnend, wie sie sein könnte – denn die Präsentation ist abstrus. Anstatt thematische Abschnitte mit nötigen Erläuterungen zu versehen oder zumindest bei jedem Werk Titel und Schöpfer anzugeben, findet sich in den Ausstellungsräumen: nichts. Alle Exponate bleiben bar jeder Information. Stattdessen erhält jeder Besucher zur Eintrittskarte ein Gratis-Handbuch mit 280 Seiten; als hätte er während des Rundgangs Zeit und Muße, es durchzulesen.

 

Blättert er zumindest darin, findet er neben verwirrenden Lageplänen einseitige Kurzbiographien aller Teilnehmer, die ihre Vita im Sinne des Ausstellungs-Untertitels interpretieren: heroisch antikolonialistische Künstler beleben segensreiche heimische Traditionen neu, um das Wohl der Menschheit zu befördern. Darauf laufen mehr oder weniger fast alle Deutungen hinaus – egal, wie die betreffenden Werke konkret aussehen.

 

Das Heil durch Selbstbefreiung ist nahe

 

Da steuert etwa die Irakerin Hayv Kahraman eine ganze Serie von unbetitelten, doch betörend delikaten Gemälden bei. Auf ihnen halten und stützen Frauen in Bikinis einander, während sie in zart durchbrochenen Mustern baden. Dazu bemerkt das Handbuch: „Kahramans Figuren verstehen sich nicht als Selbstporträts, sondern verkörpern die kollektiven Erfahrungen von Women of Colour infolge der Kolonisierung. Ihre Darstellung dieser Körper dekonstruiert europäische Ideale, entlarvt sie durch komplexe konzeptuelle und narrative Konstruktionen als vorurteilsbehaftet.“ Das klingt, als würde sich hinter dem Autorenkürzel eine KI verbergen, die mit politisch korrektem Bullshit-Bingo trainiert wurde.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Indigo Waves and Other Stories. Re-Navigating the Afrasian Sea and Notions of Diaspora" – Gegenwartskunst aus der Region des Indischen Ozeans, ko-kuratiert von Bonaventure Soh Bejeng Ndikung, im Gropiusbau, Berlin.

 

und hier eine Bilanz der Ausstellung "documenta fifteen" mit beeindruckenden Groß-Installationen der Kunstkollektive Taring Padi aus Java + Atis Resistanz aus Haiti

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Gruppendynamik – Kollektive der Moderne" – brillanter Überblick über nichtwestliche Kunst des 20. Jahrhunderts im Lenbachhaus, München

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Megalopolis – Stimmen aus Kinshasa" – faszinierende Überblicksschau über Recycling-Künstler aus dem Kongo im Grassi-Museum, Leipzig

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "Belkis Ayón: Ya Estamos Aquí" – eindrucksvolle Werkschau der kubanischen Künstlerin über Sujets der Abakuá-Geheimbund-Religion im Forum Ludwig, Aachen.

 

Was im Einzelnen befremden mag, nimmt in den einleitenden Essays fassbare Gestalt an. Ihr Tonfall ist euphorisch, visionär, fast messianisch. Sie verdammen das schlechte Bestehende, also die kulturelle Hegemonie des Westens, weisen aber den Weg in eine leuchtende Zukunft: Das Heil durch Selbstbefreiung ist nahe. So sprechen Prediger zu ihren Gemeinden oder Parteiführer zu ihren Anhängern, insbesondere im globalen Süden. Nur der Jargon ähnelt eher der revolutionären Rhetorik der 1970er Jahre.

 

Selten schillernde Kunst-Weltreise

 

Nichts wäre verfehlter, als sich darüber zu mokieren: Derlei schlichte Weltsicht prägt zunehmend den politischen Diskurs. Sei es rechtspopulistisch bei Trump, Bolsonaro und Netanjahu, oder linkspopulistisch wie in diesem Fall: gleichsam frühsozialistische Fantasien von kleinen, basisdemokratischen Gemeinschaften, in denen wie von selbst Frieden und Gerechtigkeit für alle walten wird. In der Tradition von antiken Klöstern über Kibbuzim bis zu Quilombos. Zum Weiterträumen gibt es zusätzlich noch einen dickleibigen „Reader“ zur Schau.

 

In diesem parareligiösen Kontext ist die gewählte Vermittlungsweise völlig folgerichtig: Wer der Erlösung teilhaftig werden will, darf sich nicht mit Details begnügen, sondern muss sich in die gesamte Glaubenslehre vertiefen. Info-Häppchen gibt’s nicht. Diesem Dilemma entkommt man am besten durch Ignoranz: indem man den Schmöker erstmal beiseite legt und sich dem faszinierenden Wechselbad von Eindrücken in der Ausstellung überlässt. So eine abwechslungsreich schillernde Kunst-Weltreise ist in Europa selten zu sehen – kein Wunder: Alle Werke wurden weder von noch für Europäer angefertigt, obwohl das HKW etliche davon eigens für die Schau in Auftrag gegeben hat.

 

Prächtig bebilderte Ressentiments

 

Nachdem der türkische Schriftsteller Orhan Pamuk 2006 den Literaturnobelpreis erhalten hatte, war er zeitweise ein gefragter Gesprächspartner der Medien, um die Differenzen zwischen westlicher und nichtwestlicher Weltsicht zu erklären. Im Interview mit der Zeitung „Die Welt“ betonte er: Der größte Fehler des Westens sei, die Stärke der Ressentiments gegen ihn in der übrigen Welt zu unterschätzen. Wurde diese Einsicht je prachtvoller bebildert als in „O Quilombismo“?