Frankfurt am Main

Lyonel Feininger

Lyonel Feininger: Leviathan (Dampfer Odin I), 1917, Öl auf Leinwand, 81,3 x 100,3 cm, Privatsammlung Schweiz, © VG Bild- Kunst, Bonn 2023. Fotoquelle: Schirn Kunsthalle
Die Geburt des Prisma-ismus aus dem Geist der Karikatur: Bevor Feininger als Bauhaus-Künstler berühmt wurde, zeichnete er für die Tagespresse. Die ganze Bandbreite seines Werks breitet die Schirn Kunsthalle aus – als Retrospektive eines vermeintlich Bekannten voller Überraschungen.

Wenige Künstler der klassischen Moderne sind hierzulande so populär wie Lyonel Feininger (1871-1956): Reproduktionen seiner kristallin aufgefächerten Architekturansichten und Seestücke in harmonischen Farben zieren zahllose Wohn- und Wartezimmer. Doch solche Gemälde bilden nur einen Teil seines Gesamtwerks. Dessen enorme Bandbreite breitet die Schirn Kunsthalle anhand von rund 160 Exponaten aus. Wobei sie ihm in der ersten deutschen Retrospektive seit einem Vierteljahrhundert durchaus mehr Platz hätte einräumen dürfen: Die Werke sind arg dicht gehängt, das zahlreich strömende Publikum staut sich davor.

 

Info

 

Lyonel Feininger

 

27.10.2023 - 18.02.2024

täglich außer montags 10 bis 19 Uhr,

mittwochs + donnerstags bis 22 Uhr

in der Schirn Kunsthalle, Römerberg, Frankfurt am Main

 

Katalog 39 € 

 

Weitere Informationen zur Ausstellung

 

Künstlerisch experimentierfreudig dürfte Feininger auch deshalb gewesen sein, weil er früh auf sich selbst gestellt war. Geboren in New York als Kind zweier deutscher Musiker, die ausgewandert waren, wurde er mit 17 Jahren von seinen Eltern zurück nach Deutschland geschickt, um dort Violine zu studieren. Stattdessen besuchte er mehrere Kunsthochschulen und begann Mitte der 1890er Jahre, Berliner Zeitungen mit satirischen Zeichnungen zu beliefern.

 

Bismarck mit Nasenring, Roosevelt als Papst

 

Mehr als ein Jahrzehnt lang arbeitet Feininger hauptberuflich als Karikaturist und Illustrator. Ein Star seiner Branche, geschätzt für seine frechen Einfälle: etwa Bismarck als Schiffs-Galionsfigur mit Nasenring oder US-Präsident Theodore Roosevelt, der wie einst der Papst 1494 den Erdball mit einem Kreidestrich in zwei Einfluss-Sphären aufteilt: „Amerika gehört der US-Politik, alles Übrige dem US-Welthandel“. Die Freude am Grotesken und Provokativen prägt auch seine Anfänge als Maler, nachdem er 1905 seine zweite Frau kennengelernt hatte, die Grafikerin Julia Berg.

Feature zu der Ausstellung. © Schirn Kunsthalle


 

Mummenschanz in giftigen Farben

 

Feininger ist bereits 37 Jahre alt, als er sich der Malerei zuwendet; nach Aufenthalten in Paris und London, bei denen er Gemälde von Paul Cézanne und William Turner sieht, die ihn sehr beeindrucken. Seine erste Versuche fallen figurativ aus: Auf den so genannten „Mummenschanz“-Bildern tummeln sich taumelnd allerlei schräge Gestalten, die ebenso gut Karikaturen bevölkern könnten, in Stadtszenen aus giftigen Farben wie Grellgelb und Türkisgrün. Hier gerät alles aus den Fugen.

 

1911 stellt Feininger sechs Arbeiten im Pariser Salon des Indépendants aus. Dort lernt er kubistische Werke kennen, die ihn stark beeinflussen, besonders in der expressiv beschwingten Variante von Robert Delaunay, die dieser „Orphismus“ nannte. Zurück in Deutschland, feilt er in Thüringen und an der Ostsee an seiner persönlichen Spielart, für die er berühmt werden wird – schon in den 1920er Jahren kaufen etliche Museen seine Gemälde an.

 

Zeitverlauf-Prismen + Raster-Ordnung

 

Was macht ihren eigentümlichen Reiz aus? Die Kubisten wollen möglichst viele Ansichten eines Gegenstandes zugleich auf einem Bild darstellen, was leicht chaotisch wirken kann. Dagegen zerlegt Feininger die Oberflächen von Gebäuden und Landschaften in Prismen, die Facetten von Kristallen gleichen. In Farbverläufen von Hell bis Dunkel, die quasi den Zeitverlauf der wandernden Sonne anzeigen: Mit aufwändigen Schab- und Tupf-Verfahren lässt er alle Nuancen der verwendeten Farbtöne durchschimmern.

 

Zugleich legt Feininger jedoch ein rigides Raster über das Bild: mit Kraftlinien wie im Futurismus, aber streng geometrisch. Das suggeriert Ordnung: Der Künstler beherrscht das Dargestellte wie ein Demiurg, indem er es aus Grundformen zusammensetzt – und zwar unabhängig vom Motiv. Für verwinkelte Altstadtgassen in Halle (Saale) und die dortige Barfüßerkirche verwendet er das gleiche Kompositionsschema wie später für Häuserschluchten in Manhattan: Am linken und rechten Bildrand stapeln sich Bauelemente, in der Mitte gähnt Leere. Ähnlich bei seinen Seestücken: Dünen und Meeresspiegel sind stets leere Flächen, die als Schauplätze für subtile Farbenspiele dienen.

 

Zwei Seelen: technisch + romantisch

 

Oft werden für Feiningers Maltechnik Begriffe wie Transparenz, Klarheit und Konzentration bemüht – aber was besagt das? Näher liegt der Befund, dem Publikum gefalle, wie er auf der Leinwand Gegensätze ausgleicht: das alles Gewohnte Sprengende und Entfesselte im Kubismus und Expressionismus mit den vertrauten Formen der euklidischen Geometrie, die seit 2500 Jahren die europäische Wahrnehmung steuert. Was den zwei Seelen in seiner Brust entspräche – 1905 charakterisiert er sich gegenüber Julia Berg so: „Ich bin von Veranlagung real, d.h. technisch und nützlich-denkend veranlagt, aber dabei sehr romantisch, rein subjektiv.“

 

Skurrilen Ausdruck findet diese Doppelbegabung im Spielzeug-Design. Um Geld zu verdienen, entwirft Feininger 1913 rund 50 bemalte Lokomotiven- und Waggon-Modelle aus Holz, die in Serie gefertigt werden sollen, doch daraus wird nichts. Später bastelt er ganze Städte aus Hutzelhäuschen mit passenden Männchen als Spielzeug für seine Kinder: Die Schirn scheut sich nicht, sie aufzustellen. Sein Sohn Andreas hat als renommierter Fotograf sie aus der Ameisenperspektive abgelichtet: Viele Motive ähneln verblüffend der stilisierten Bildwelt seines Vaters.

 

Rückkehr nach New York 1937

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Feininger aus Harvard – Zeichnungen, Aquarelle und Fotografien" mit Bauhaus-Arbeiten von Lyonel Feininger in Berlin + München

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung  "Der Sturm – Zentrum der Avantgarde" über die Berliner Galerie mit Werken von Lyonel Feininger im Von der Heydt-Museum, Wuppertal

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Marsden Hartley: Die deutschen Bilder 1913-1915" über den US-Weggefährten wie Lyonel Feininger in der Neuen Nationalgalerie, Berlin

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "130% Sprengel. Sammlung Pur" – Neupräsentation der Klassischen Moderne mit Werken von Lyonel Feininger im Sprengel Museum Hannover.

 

Dieser, seit 1919 am Bauhaus in Weimar und seit 1921 Direktor seiner Graphischen Werkstatt, fotografiert ab 1928 ebenfalls intensiv; er soll 20.000 Aufnahmen hinterlassen haben. Auch dafür zeigt die Schau etliche – allerdings wenig eindrucksvolle – Beispiele: Seine Schnappschüsse aus extremen Perspektiven, mit harten Anschnitten oder im Gegenlicht mögen vor 100 Jahren aufregend gewesen sein, heute erscheinen sie altbacken. Das „Neue Sehen“ sah bei anderen Fotografen besser aus.

 

Zeitlos ansprechend wirkt hingegen das in Europa kaum bekannte Spätwerk. Es entstand in den USA, wohin Feininger mit seiner Frau 1937 zurückgekehrt war – die Nazis hatten mehr als 400 seiner Arbeiten aus öffentlichen Sammlungen konfisziert und einige in der Femeschau „Entartete Kunst“ gezeigt. Der Künstler brauchte Jahre, bis er in seiner fremd gewordenen Heimat wieder Fuß fasste. Seinen Durchbruch dort erlebte 1944, als das Museum of Modern Art ihm zusammen mit dem US-Expressionisten Marsden Hartley eine große Doppel-Retrospektive ausrichtete.

 

Kein Fortschritt mit Abstraktion

 

Im halben Jahrhundert seiner Abwesenheit hatte sich seine Geburtsstadt völlig verändert. Der Maler reagierte darauf mit radikaler Reduktion seiner New-York-Bilder, denn geläufige Stadtansichten erschienen ihm „flau und abgedroschen“. Seine Farbpalette wird fahl und schrundig, Fassaden und Fenster deutet er nur noch mit dünnen Strichen und Punkten an – irgendwo zwischen Paul Klee und Antoni Tapiès.

 

Das entsprach der ausgemergelten Ästhetik der Nachkriegszeit, doch Feininger hielt am Gegenständlichen fest; den Schritt zur aufkommenden Abstraktion machte er nicht. Bereits 1913 hatte er seinem Freund Alfred Kubin geschrieben: „Ich könnte ebenso wenig wie Sie zur rein Abstrakten Form greifen – denn dann hört alles Fortschreiten auf“.