Der Name verpflichtet: Zwangsläufig waren die Avantgardisten im Ersten Weltkrieg ganz in ihrem Element. Entstammt doch diese Bezeichnung dem militärischen Jargon; „Avantgarde“ ist die Vorhut des Heeres. Da verwundert kaum, dass sich Künstler aller Nationen bei Kriegsausbruch im August 1914 dem patriotischen Taumel ihrer Landsleute anschlossen.
Info
1914 - Die Avantgarden im Kampf
08.11.2013 - 23.02.2014
täglich außer montags
10 bis 19 Uhr, dienstags und mittwochs bis 21 Uhr
in der Bundeskunsthalle, Friedrich-Ebert-Allee 4, Bonn
Katalog 39 €
Berge von Toten als Skulpturen
Und Filippo Marinetti, Wortführer der italienischen Futuristen, krönte 1915 sein Manifest „Der Krieg, einzige Hygiene der Welt“ mit den Zeilen: „Nichts haben wir heute so zu bewundern wie die furchtbaren Symphonien der Schrapnelle und die wahnsinnigen Skulpturen, die unsere Artillerie aus der Masse des Feindes formt.“ Der Krieg als perverses Gesamtkunstwerk.
Impressionen der Ausstellung, © Bundeskunsthalle
Neue Ästhetiken für eine neue Welt
Marinetti zog nur die äußerste Konsequenz aus einer diffusen Sehnsucht nach Zeitenwende, die weit verbreitet war. Das bürgerliche Europa war seiner gediegenen Kultur müde geworden. Aus diesem Impuls entstanden ab 1900 moderne Strömungen, die mit der Tradition brachen: Expressionismus, Kubismus oder Futurismus. Neue Ästhetiken sollten eine neue Welt hervorbringen; viele Künstler malten solche Visionen eines gewaltsamen Umbruchs.
Unmittelbar vor Kriegsbeginn standen die Avantgarden vor dem Durchbruch. Große Überblicks-Ausstellungen wie die Sonderbund-Schau 1912 in Köln oder die Armory Show 1913 in New York machten die neuen Stilrichtungen populär. Grenzüberschreitender Kunsthandel florierte, ebenso der Austausch zwischen Künstlern verschiedener Länder.
Der „Blaue Reiter“ war halb russisch
So zählten zum Kern des expressionistischen „Blauen Reiter“ in München drei Russen: Wassily Kandinsky, Alexej von Jawlensky und Marianne von Werefkin. Die Gruppe präsentierte auch französische Kollegen wie Henri Rousseau und Robert Delaunay. Für seine Galerie „Der Sturm“ in Berlin trieb Herwarth Walden Werke aus ganz Europa auf.
All das endete mit Kriegsausbruch: „Unerwünschte Ausländer“ wurden des Landes verwiesen, an international bestückte Ausstellungen war nicht mehr zu denken. Die Bundeskunsthalle zeigt nun, wie sich dieser Epochenbruch auf die Künste ausgewirkt hat: anhand von 300 Werken von 60 Künstlern aus den wichtigsten Krieg führenden Nationen.
Künstler tarnen Kriegsgerät
Verständlicherweise wich anfängliche Begeisterung bei den meisten Künstlern rasch der Ernüchterung – vor allem bei denen, die eingezogen wurden. Zu grässlich waren die Front-Erlebnisse in den Schützengräben, wo bald etliche begabte Maler umkamen. August Macke fiel schon im September 1914, der zu Unrecht fast vergessene Albert Weisgerber im Mai 1915. Franz Marc, der sich freiwillig gemeldet hatte, starb im März 1916.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "1913: Bilder vor der Apokalypse" im Franz Marc Museum, Kochel am See
und hier einen Beitrag über die Ausstellung “1912 – Mission Moderne“ – Rekonstruktion der Jahrhundertschau des Sonderbundes im Wallraf-Richartz-Museum, Köln
und hier einen Bericht über die Ausstellung “Der Sturm – Zentrum der Avantgarde” mit Werken von Kandinsky + Beckmann im Von der Heydt-Museum, Wuppertal
und hier eine Rezension der Ausstellung "Traumanatomie" über Hans Arp + Hugo Ball im Arp Museum, Remagen
und hier eine Besprechung der Ausstellung “Fernand Léger und Henri Laurens: Tête-à-tête” im Museum Frieder Burda, Baden-Baden
und hier einen Artikel über die Ausstellung “Albert Weisgerber: Malerei” – Wiederentdeckung des im Krieg gefallenen Künstlers im Edwin Scharff Museum, Neu-Ulm.
Nihilismus als Protest gegen irre Welt
Wieder andere reagierten auf die Zäsur des Krieges mit einer Zuspitzung ihrer künstlerischen Handschrift. So notierte Fernand Léger 1915 sarkastisch: „Etwas Kubistischeres als einen Krieg wie diesen gibt es nicht, wo ein Mann mehr oder weniger ordentlich in mehrere Stücke zerfetzt und in alle vier Himmelsrichtungen geschleudert wird.“
Am entschiedensten reagierten Exilanten, die mitten im Krieg neue Avantgarden gründeten. Etwa Hugo Ball, Raoul Hausmann und Hans Arp, die mit anderen in Zürich 1916 den Dadaismus aus der Taufe hoben: nonsense-Nihilismus als Protest gegen eine irre Welt. Oder Marcel Duchamp, der ab 1915 in New York mit ready mades die Konzept-Kunst austüftelte.
Pittura metafisica entstand in Psychiatrie
Oder Giorgio de Chirico, der 1917 in die Psychiatrie geflüchtet war und dort die pittura metafisica erfand – den Vorläufer des Surrealismus. Zuvor hatte Kasimir Malewitsch Ende 1915 für eine Gruppenausstellung das „Schwarze Quadrat“ gemalt – als Fanal des Suprematismus. In der gleichen Schau hielt ihm Wladimir Tatlin ein „Konterrelief“ aus Alltags-Gegenständen entgegen; das erste Objekt des Konstruktivismus.
So ließ der Krieg keine Kunstrichtung unverändert. Er brachte die Avantgarden nicht hervor, doch er radikalisierte sie und ließ neue Varianten entstehen, die noch brüsker mit dem Gewohnten abrechneten. Nach dem Krieg war wie in Politik und Gesellschaft auch in der Kunst nichts mehr wie zuvor.
Das präsentiert die Bundeskunsthalle in passend nüchterner Umgebung: ein in Feldgrau und Tarnbemalung gehaltener Parcours wie durch einen Kommandostand. Wer im Trommelfeuer der Gedenkausstellungen in diesem Jahr nur eine besuchen will, sollte diese wählen.