Eine Ausstellungstitel als Frage– darauf muss man erst einmal kommen! Natürlich ist diese Frage rhetorisch gemeint und beantwortet sich von selbst: Das Barock-Zeitalter war keineswegs nur schöner Schein, sondern wesentlich mehr. Aber was genau?
Info
Barock -
Nur schöner Schein?
11.09.2016 - 19.02.2017
täglich außer montags
11 bis 18 Uhr
in den Reiss-Engelhorn-Museen, Museum Zeughaus C5, Mannheim
Begleitband 28 €
Von Politik bis Tischsitten
Entsprechend umfassend ist der Anspruch dieser Schau. Es geht nicht nur um Kunst, sondern um die ganze europäische Kulturgeschichte in zwei Jahrhunderten – inklusive Politik, Wirtschaft, Religion und Wissenschaft, ebenso Medizin, Mode, Umgangsformen oder Tischsitten. An einem derart ehrgeizigen Vorhaben kann man eigentlich nur scheitern; selbst wenn man rund 300 Exponate auf 1200 Quadratmetern Fläche ausbreitet.
Impressionen der Ausstellung
Schönheitsideale auf drei Gemälden
Zumal Kuratorin Coburger überdies neueste Forschungsergebnisse vorstellen, Legenden widerlegen und mit Klischees aufräumen will. Angefangen mit dem barocken Schönheitsideal üppiger Rubensfrauen; es wird in der Schau durch das Bild einer drallen „Suzanna und die Alten“ (1640/5) von Jacob Jordaens verkörpert. Viel zu einseitig, heißt es: Daneben hängen eine wohlproportionierte „Maria Magdalena“ (1626/8) von Orazio Gentileschi und ein hagerer „Heiliger Sebastian“ von Guido Reni.
Dass Barock-Maler nicht nur korpulente Damen porträtierten, versteht sich – aber sind drei Gemälde ein schlagender Beweis für oder gegen ein Körperideal? Rubens hätte seine Massenproduktion kaum absetzen können, wenn die Kundschaft Magere bevorzugt hätte. Wohlgenährt zu sein, ist insbesondere in Zeiten von Krisen und Mangel wie dem 17. und 18. Jahrhundert attraktiv; diesen simplen Zusammenhang ignoriert die Ausstellung.
Unnötige Definitionsprobleme
Stattdessen verwendet sie viel Mühe auf den Nachweis, wie schwierig es sei, Barock von der vorangehenden Renaissance und der folgenden Aufklärung samt Klassizismus abzugrenzen. Kein Wunder: Nicht einmal Herkunft und Bedeutung des Wortes sind geklärt. In der Malerei beginnt der Barockstil um 1580 mit Werken von Caravaggio und Annibale Caracci; um 1720 wird er vom Rokoko abgelöst, das eine neuartige Ästhetik kultiviert.
In der Architektur, Literatur und Musik verschiebt sich diese Periodisierung. Zudem breitet sich der Barock von Italien aus unterschiedlich rasch aus und erreicht manche Teile Europas erst deutlich später oder gar nicht. Indem sich die Ausstellung den größtmöglichen Zeitraum und den ganzen Kontinent – de facto: nur seine westliche Hälfte – vornimmt, bürdet sie sich unnötige Definitionsprobleme auf.
Wasser schadet der Gesundheit
So entsteht ein potpourri von allerlei Dingen und Phänomenen, die in 200 Jahren irgendwo auftraten. Globen, Porzellan und Gewürze stehen für florierenden Überseehandel. Korsetts, Plateausohlen-Schuhe und Schweißtücher vertreten Kleidung und Körperhygiene des Adels; auch eine Flohfalle aus Elfenbein darf nicht fehlen, die man in Gewändern und Haaren trug. Vom Waschen oder Baden rieten Ärzte ab: Wasser schade der Gesundheit.
1675 beobachtete Antoni van Leeuwenhoek mit einem selbst gebauten Mikroskop erstmals Bakterien und Einzeller in Teich- und Regenwasser; einer seiner Original-Apparate zählt zu den Prunkstücken der Schau. Viele weitere Entdeckungen und Erfindungen höhlten allmählich die von der Kirche verkündeten Lehren aus. Die Heilsgewissheit der Zeitgenossen war ohnehin durch die Spaltung des Christentums in Katholiken und Protestanten erschüttert.
Die Natur dem Souverän unterwerfen
All das erwähnt die Schau ebenso wie barocke Hofhaltung oder die Gründung neuer Städte mit geometrischem Straßenraster, etwa Karlsruhe oder Mannheim. Doch es gelingt ihr nicht, diese verschiedenen Aspekte zu einem schlüssigen Gesamtbild zusammenzuführen – also das Selbstverständnis des barocken Zeitalters zu beschreiben.
Es steckt in Symptomen wie der allgegenwärtigen Symmetrie: von Allonge-Perücken über Tapetenmuster und Möbel bis zu Parks und Stadtplänen. Symmetrie hatte schon die Renaissance geprägt, aber in geometrischen Formen; nun wurde sie organisch. Darin steckt nicht nur ein „Prinzip der Ordnung“, wie die Schau bemerkt, sondern mehr: Indem der barocke Bauherr sogar Gärten und florales Dekor etwa an Fassaden symmetrisch anlegen lässt, unterwirft er auch die Natur seinem Gestaltungswillen – wie der Monarch als Souverän sein ganzes Reich.
Alleinherrscher als Friedensstifter
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "El Siglo de Oro – Die Ära Velázquez" – brillanter Überblick über Barock in Spaniens Goldenem Zeitalter in Berlin + München
und hier eine Besprechung der Ausstellung "Peter Paul Rubens" – gelungene Themenschau über den Barock- als politischen Künstler im Von der Heydt-Museum, Wuppertal
und hier einen Bericht über die Ausstellung "Jordaens und die Antike" – erste deutsche Retrospektive des Barock-Malers im Museum Fridericianum, Kassel
und hier eine Kritik der Ausstellung "Schloss Bau Meister – Andreas Schlüter und das barocke Berlin" – Gedenkschau zum 300. Todesjahr des Barock-Bildhauers im Bode Museum, Berlin
und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Das Potosí-Prinzip" – faszinierende Einführung in Barock-Malerei aus Bolivien im Haus der Kulturen der Welt, Berlin.
Wie kam es dazu? Seit der Reformation verwüsteten ständige Religionskriege ganze Landstriche. Diese könne nur ein absoluter weltlicher Souverän befrieden, argumentierte Thomas Hobbes 1651 in seinem „Leviathan“. Die Forderung nach einem Alleinherrscher entsprang also einer Verlusterfahrung: Den idealerweise von allen Christen anerkannten Stellvertreter Gottes gab es nicht mehr. Das geschlossene Weltbild des Mittelalters war zerbrochen.
Man geht nicht mehr; man schreitet
Dieses spirituelle Defizit erklärt am ehesten den Wesenskern des Barock: sein theatralisches Pathos. Das brachte der Kulturhistoriker Egon Friedell 1927 auf die Formel: „Man geht nicht mehr; man schreitet“. Wenn Bedeutung nicht mehr durch einen Heilsplan fraglos garantiert ist, muss man sie durch gravitätisches Auftreten selbst herstellen: Alles wird übertrieben aufwändig, gespreizt, outriert und pompös. Da die Ausstellung leider damit beschäftigt ist, dem Barock seinen „schönen Schein“ auszutreiben, hat sie für die prunkvolle bis latent megalomane Selbstdarstellung von Barockmenschen keinen Sinn.
Nur am Ende blitzt sie kurz auf: bei der Film-Projektion einer performance in ausladenden Kostümen der Designerin Vivienne Westwood zu Musik von Georg Händel. Sowie in der Farbgestaltung der Schau, die durchgängig in stechendem Magenta und giftigem Gelbgrün gehalten ist – zweifellos eine barocke Extravaganz. Wie das ganze Konzept: Sich 200 Jahre Totalgeschichte vorzunehmen, davon nur eine Handvoll Fragmente zu realisieren und alles Übrige mit Definitions-Debatten zu eskamotieren – das ist barockes Fürstengebaren par excellence.