Eine der wenigen positiven Begleiterscheinungen des russischen Angriffskriegs ist die Entdeckung hierzulande (mit drei Jahrzehnten Verspätung), dass die unabhängige Ukraine eine große Kulturnation ist. Mit eigenständigen Formen und Traditionen, die weit zurückreichen – auch wenn sie Jahrhunderte lang von der russischen und später der sowjetischen Kolonialmacht unterdrückt oder überformt und als süd- bzw. kleinrussisch klassifiziert und abgewertet wurden.
Info
Kaleidoskop der Geschichte(n) - Ukrainische Kunst 1912–2023
06.05.2023 - 09.10.2023
täglich außer montags 10 bis 18 Uhr
im Albertinum, Tzschirnerplatz 2, Dresden
Weitere Informationen zur Ausstellung
Klassiker in Basel + Moderne in Köln
Im Kunstmuseum Basel waren bis Ende April rund 50 Meisterwerke vom 18. bis 20. Jahrhundert aus der Nationalgalerie in Kiew zu sehen – sie wurden in die Schweiz transportiert, um sie vor Kriegsschäden zu schützen. Das Museum Ludwig in Köln zeigt seit Anfang Juni bis Ende September „Ukrainische Moderne 1900-1930“: Arbeiten der Avantgarde-Strömungen jener Jahre, etwa von Alexandra Exter oder Wolodymyr Burljuk. Sie firmierten bislang meist unter dem Sammelbegriff „Russische Avantgarde“.
Feature zur Ausstellung. © Staatliche Kunstsammlungen Dresden
Optischer Trick funktioniert nicht
Das ehrgeizigste dieser Projekte inszenieren die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden (SKD) unter dem Titel „Kaleidoskop der Geschichte(n). Ukrainische Kunst 1912–2023“. Das klingt nach einem Gesamtüberblick über ihre Entwicklung in den letzten 100 Jahren; leider wird diese Erwartung trotz rund 120 Werken von 50 Künstlern weitgehend enttäuscht. Wobei die Bezeichnung „Kaleidoskop der Geschichte(n)“ clever gewählt ist: Im Kaleidoskop erzeugen bunte Steinchen bei jeder Drehung neue symmetrische Bilder. Mag ihre Anordnung noch so chaotisch sein – dank der Innenspiegel wirkt die Ansicht stets harmonisch. Dieser optische Trick funktioniert bei einer Ausstellung aber nicht, wie das Albertinum vorführt.
Schon der Vorraum wirkt befremdlich. Der sinnvolle Ansatz, zum Einstieg über die wichtigsten Stationen und Ereignisse der ukrainischen Geschichte stichwortartig zu informieren, wird denkbar schlecht vermittelt. Pseudo-konstruktivistische Wandtafel-Collagen überschütten den Leser mit schwer lesbaren Fakten-Listen, Zitaten renommierter Akteure und historischen Fotodokumenten. Unterteilt in vier Schlüsseljahre: 1927 für die Avantgarde, 1937 für stalinistische Repression, 1968 für Intelligenzija-Opposition, 1989ff. für die Epoche der wiedergewonnenen Souveränität. Was vor und nach diesen vermeintlichen Wendepunkten passierte, wird in wenigen Sätzen abgehandelt.
Stalinismus + Tauwetter nur angedeutet
Dieses eigentümliche Zeitverständnis prägt auch die eigentliche Schau: Zwischen einzelnen Schlaglichtern erstrecken sich lange Phasen, in denen offenbar nichts von Belang geschah. Am überzeugendsten gerät der erste Abschnitt zur spezifisch ukrainischen Ausprägung der Sowjet-Avantgarden: Großformatige Tafelbilder von Oksana Pavlenko verbinden revolutionäres Pathos mit Motiven der ukrainischen Bauernkultur. Gemälde von Viktor Palmov erinnern mit ihrer leichthändigen Aufhebung der Schwerkraft an Chagall.
Noch Anfang der 1930er Jahre schaffen Leonila Hrytsenko („Episode aus dem Bürgerkrieg“, 1931) und Boris Kriukov („Flughafen“, 1932) formal kühne und komplexe Kompositionen. Und dann folgt – das große Schweigen. So wird der 1937 hingerichtete Mychajlo Bojtschuk, durch seinen Monumental-Stil wohl der einflussreichste Künstler der 1920/30er Jahre, zwar namentlich erwähnt; er ist aber mit keinem einzigen Werk vertreten. Denn der Stalinismus und seine Kunst-Doktrin des Sozialistischen Realismus sowie die poststalinistische Tauwetter-Periode der 1950/60er Jahre kommen nur in Andeutungen vor.
Kabinett für Science-Fiction-Fantasten
Genauer: In stilisierten, possierlichen Tier- und Blumen-Bildern von Maria Prymachenko oder Kateryna Bilokur aus den 1930/40er Jahren. Diese naiv-harmlose Outsider-Kunst – Leihgaben des Nationalmuseums für dekorative Volkskunst – werden zu Belegen für innere Emigration und stillen Widerstand gegen den offiziellen Kunstbetrieb gedeutet. Was wohl die Schlussfolgerung nahelegen soll: Wahrhaftige ukrainische Künstler ließen sich vom Sowjetsystem nicht korrumpieren; Propandabilder pinselten stets die anderen (vermutlich Russen).
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Das Hamlet Syndrom" – bewegende Dokumentation über Kriegstrauma-Theater mit jungen Ukrainern von Elwira Niewiera und Piotr Rosołowski
und hier eine Besprechung der Ausstellung "Boris Mikhailov: Time is out of joint – Fotografien 1966 - 2011" - Doku-Fotografie aus der Ukraine vor + nach dem Zerfall der Sowjetunion in der Berlinischen Galerie.
und hier eine Kritik der Ausstellung "The Ukrainians" – Kunst zum Maidan-Protest 2014 in der daadgalerie, Berlin
und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Die Krim – Goldene Insel im Schwarzen Meer: Griechen – Skythen – Goten" im LVR-Landesmuseum, Bonn
und hier einen Bericht über die Ausstellung "Der Welt-Menschheit größte Erfindung!" mit Entwürfen des Weltraum-Fantasten Karl Hans Janke im Stadthaus Ulm.
Viel halbgare Gegenwarts-Kunst
Dagegen kommt der spätsowjetische Konzeptualismus in seiner ukrainischen Spielart zwar vor, wird aber unzureichend erläutert, so dass seine Zielrichtung für heute Betrachter schwer verständlich ist. Die Schnappschuss-Serie „Snobismus auf der Krim“, die der längst berühmte Fotograf Boris Mikhailov in den 1960er Jahren anfertigte, wirkt aus westlicher Sicht unspektakulär – ihren subtilen Witz bezieht sie aus dem Umstand, dass solch mondänes dolce vita für Sowjetbürger damals unerreichbar war.
Platz und Kontextwissen, welche die Schau bei der Vergangenheit einspart, pumpt sie in die Darstellung der Gegenwart: Die meisten Exponate sind erst in den letzten zehn Jahren entstanden. Darunter viel Halbgares wie die schlichten Konterfeis von Lesia Khomenko: Während der Proteste gegen den korrupten Präsidenten Wiktor Janukowytsch 2014 zeichnete sie Demonstranten auf dem Maidan-Platz in Kiew, schenkte ihnen die Originale und behielt Kopien. Diese Porträtgalerie mag für Veteranen von sentimentalem Wert sein – ihr künstlerischer ist offensichtlich bescheiden.
Spielzeug ohne Erlebniswert
Welche Kriterien auch immer die Kuratorinnen bei der Auswahl der zeitgenössischen Künstler geleitet haben mögen – dem Besucher erschließen sie sich nicht. So bietet die Ausstellung weder einen kompetenten Abriss über ukrainische Kunst im 20. Jahrhundert noch einen umfassenden Überblick über die gegenwärtige Szene. Dieses Kaleidoskop ist ein Spielzeug ohne großen Erlebniswert.